Schon zum zweiten Mal innerhalb von nur fünf Monaten stellt sich die Deutsche Bundeskanzlerin kritischen Fragen zu Ihrer Flüchtlingspolitik bei Anne Will. Das Ergebnis für Kritiker ernüchternd bis erschreckend. Ernüchternd, als klar wird, dass eine Überprüfung der eigenen Position nicht erfolgen wird. Erschreckend, als die Kanzlerin die moralische Überhöhung ihrer Position vorantreibt und die Politik - weitgehend unter dogmatischer Ausgrenzung sachlicher Erwägungen und moralischer Diskreditierung Andersdenkender ("kalte Herzen" ) - als alternativlos propagiert.
Tod der Rationalität
" ... keine Begeisterung sollte größer sein als die nüchterne Leidenschaft zur praktischen Vernunft" formulierte noch Bundeskanzler Helmut Schmidt 1986 sein politisches Credo. Das ist passè. Nun gilt es in der Politik wieder zu glauben. Der Glaube an die Kanzlerin, die Berge versetzen kann, wenn nur genügend mitglauben. Die Einforderung von Glauben in der Politik sollte uns nicht zuletzt im Lichte der Aufklärung - stutzig machen.
Der "blattersche" Ansatz
Möglicherweise geht es auch gar nicht um eine extensiv erhöhte Moral, sondern nur um ein sehr pragmatisches Vorgehen: Man stelle sich allein die Frage, wie sich jemand aufstellen würde, der in einem unbedachten Moment einen Fehler begangen hat, dessen Konsequenzen er zunächst (fahrlässig oder nicht vorwerfbar) nicht richtig überblickt hat. Dann denkt er sich: Wenn ich diesen Fehler jetzt zugebe, kostet mich das meine Reputation (und vielleicht sogar mein Amt, das ich doch gerne bekleide). Ex-FIFA-Blatter dürften solche Motive angetrieben haben. Das ist - wenn auch inakzeptabel - immerhin noch menschlich nachvollziehbar.
Die moralische Erhöhung
Die nicht nachvollziehbare Erhöhung findet statt, wenn der Akteuer an seinem Fehler festhält, ihn zur heiligen Aufgabe erklärt und vom unruhigen Publikum bedingungsloses Vertrauen in dessen Plan und seine legendäre Weitsicht (über die alle anderen ja nicht verfügen)einfordert. Wenn der Akteur es ganz doll treiben möchte, setzt er sich höchstpersönlich ins Fernsehen und erklärt entweder, das er immer Präsident bleiben wolle und müsse (Blatter) oder das die Beibehaltung der eingeschlagenen Richtung "eine verdammte Pflicht" sei (Merkel).
Unabhänging von ihrer Motivlage galt dies sowohl für Herrn Blatter wie aktuell für die Bundeskanzlerin: Abverlangt wird der bedingungslose und kritiklose Glaube an "sich selbst" und seine Handlungen.
Die Heilige Pflicht
Und wenn, wie im Fall Merkel, der dem eigenen Volk (oder auch Steuerzahler) abverlangte, bedingungslose Glaube und Einsatz nicht ausreicht, dann ist es eben "nicht das Land" der Kanzlerin. Das Einfordern von sachlichen Argumenten wird, wie die Orientierung an einem rational menschlichen, eben nicht-grenzenlosen-moralischen Anspruch, als kurzsichtig oder sogar kaltherzig diskreditiert.
Es darf daran erinnert werden: Heilige Pflichten gab es gerade auch in Deutschland schon öfter - zumeist allerdings mit sehr unheiligem Ausgang. Auch hier wäre die von früheren Kanzlern noch gelebte "Leidenschaft für die praktische Vernunft" ein probates Mittel gewesen, verhängnisvolle Fehler zu vermeiden, die letzten Endes doch immer wieder vom "allzu glaubenden Volk" oder Publikum zu zahlen waren und sind. [O.Griebsch/erschienen erstmals auf Votum1]
Screenshot/AnneWillARD