... noch immer reibt man sich die verschlafen die Augen, ob der Ereignisse der Nacht in der Türkei und anderswo:

Der Vorzeigedemokrat Erdogan wird eindrucksvoll von seinem Volk gerettet, welches er "en passant" quasi mittels Urlaubsselfi und nächtlichen Aufrufen seiner Imame dazu brachte, sich blitzartig auf den Plätzen und Brücken zu versammeln und sogar dazu, "Allah ist groß" rufend mit freiem Oberkörper unter die Panzerketten zu legen.

Die Akteuere des offenbar nachlässig vorbereiteten Putsches waren wohl selbst überrascht von der Schnelligkeit der Gegenreaktion und dem völligen Fehlen von Unterstützung im vermeintlich geknechteten Volk. Auch schienen sie die letzte Konsequenz nicht aufbringen zu können oder zu wollen. Stattdessen ließen sich die Soldaten von skandierenden Erdogan Anhängern aus ihren Panzern ziehen. Die Situation war eine andere als die, als das ägyptische Militär seine dortigen Moslembrüder verjagte und sich dabei immerhin auf eine verhaltene Billigung durch die liberaleren und säkulareren Bevölkerungsgruppen stützen durfte. Selbst die Kurden, deren Städte doch von Erdogan zerstört werden, solidarisierten sich praktisch mit Erdogan.

Erdogan wird größer nach diesem Putschversuch. Über ihn wacht das Volk und irgendwie wohl auch die Hand Gottes ? Seinem Ziel, die Türkei entgegen dem Erbe Atatürks mittels seiner AKP in einen islamischen Stat zu wandeln kommt er damit näher. Auch seinem Wunsch, das von Atatürk und den Allierten nach dem ersten Weltkrieg beerdigte Osmanische Reich glanzvoll wieder auferstehen zu lassen, dürfte er näher gekommen sein. In Syrien hat Assad die Champagnerflaschen wohl schnell wieder eingepackt und ahnt Böses. Wen Erdogan hier in den letzten Jahren eigentlich unterstützt, um seine Hand auch nach Damaskus auszustrecken, bleibt unklar. Jeder Rebell gegen Assad muß ja einer von den Guten sein. Wichtig scheint nicht wofür jemand ist, sondern wogegen.

Kritische Fragen von Journalisten werden mit Gefängnis bestraft. Und den Putschisten wurde ja schon in der Nacht des Putsches ein "sehr hoher Preis" für Ihren Versuch angekündigt, die Trennung von Kirche und Staat in der Türkei auch mit Waffen zu verteidigen und das Erbe Atatürks zu wahren (mag sich Erdogan auch noch immer vor dessen Bildnis ablichten lassen).

Aber die westlichen Regierungen begrüßen den "Sieg der Demokratie". "Gewalt ist keine Lösung" und Erdogan verachtet die Europäer offen für diese Überzeugung. Die Deutsch-Türken ziehen mit großen rot-weissen Fahnen auf den Autodächern durch Köln, Berlin und anderswo und skandieren "Allah ist groß". Zu wünschen, dass allen nicht die Freudentränen über diesen Sieg des Demokraten Erdogan im Halse stecken bleiben. Europa wird den noch größeren Erdogan zu spüren bekommen. Jetzt wird erst einmal aufgeräumt, die letzten Nicht-Erdoganisten in Militär und Verwaltung werden durch treue Vasallen ersetzt (Erdgan nennt das dann "Säuberung" ) und die Türkei wird absehbar aufhören, ein laizistischer Staat zu sein, mag Atatürk auch an den Wänden hängen bleiben. Champagner also jetzt für Erdogan, Blei für die Putschisten und eine sehr hohe Rechnung für Europa. "Allahu akbar" - wenn ich das als Ungläubiger so sagen darf ? (O.Griebsch)

Nachtrag (man kommt ja fast nicht nach mit seinem Erstaunen):

Inzwischen sind die wehenden rot-weissen Fahnen mit dem Halbmond vor der Kulisse des Kölner Doms angekommen. "Bis zu 40.000 Erdogan Anhänger" huldigen dem Retter der Demokratie unter "Allah ist groß" Rufen, erbost darüber, dass der türkische Präsident nicht live zu seinem Volk sprechen darf. Sehr vorsichtige Hinweise der deutschen Bundesregierung darüber, dass man die Säuberung in der Türkei (inklusive des Austauschs des Rechtsapparats und großer Teile des Lehrpersonals) und die Forderung nach der Todesstrafe für die Putschisten "mit Sorge" betrachtet, werden von der Türkei mit dem kaum verhohlenen Hinweis quittiert, dass man jederzeit die Flüchtlingsströme wieder in Gang setzen könne. Der Hinweis scheint bei der Bundesregierung anzukommen, hängt doch deren gedeihliche Fortsetzung entscheidend von Merkels Erdogan Pakt ab. Das Erstaunen über all dies hält sich überraschend in Grenzen.