Zweimal im Jahr beglücken uns unsere höchsten Politlenker mit einem großen Löffel Baldrian. Den Löffel zum Fest verabreicht uns traditionell der Bundespräsident bei seiner Weihnachtsansprache, für die Dosis der Kanzlerin müssen wir uns noch bis Neujahr gedulden. Waren die Ansprachen des Pastors Gauck noch Satzgebäude, die reich an klebrigem Pathos und vor allem Substantiven waren, baut Steinmeier seine Wortgirlanden vor allem aus dem liebsten Bestandteil des modernen Politsprech, der Floskel. Das tut er natürlich mit Bedacht, denn er hofft, so die Halbwertzeit seiner inhaltsleeren Rede zu verlängern. Wo keine Inhalte sind, können sie auch nicht verloren gehen. Legt man die Weihnachtsansprache jedoch neben andere Meldungen vom Tage, bekommt die präsidiale Absicht einen Dreh in Richtung Irrsinn. Wenn Steinmeier sagt, „Wir leben in einer Zeit, die uns beständig mit Unerwartetem konfrontiert“ wird die 16-jährige aus Darmstadt ihrem Präsidenten sicher begeistert zustimmen – wurde sie doch ziemlich unerwartet von ihrem 17-jährigen Ex-Freund, einem Flüchtling, niedergestochen und lebensgefährlich verletzt. Vorfälle wie diesen könnten allein im Dezember einen ganzen Adventskalender füllen, sofern man sich die Mühe macht, den Elfenbeinturm von SZ, Spiegel, Zeit und Taz zu verlassen, um in den ausgetrockneten Sümpfen der Lokalpresse Türchen zu öffnen.
Blutleere und Bedeutungslosigkeit der Weihnachtsansprache
Der Jahresendsprech von Kanzlerin und Präsident haben sich zu einer blutleeren Institution entwickelt, die sich vor allem durch Selbstlob, Desinteresse und mangelnde Relevanz auszeichnen. Wäre nicht die prominente Sendezeit bei den zu jedem Staatstragen verpflichteten öffentlich-rechtlichen Sendern und die wohlwollende Erwähnung einiger Zitate in der Presse, kaum jemand nähme Notiz davon. In diesem Jahr dokumentiert die Rede Steinmeiers in besonderer Weise, wenn auch unfreiwillig, das Staatsversagen. Nämlich durch beredtes Schweigen. Steinmeier schweigt zur angespannten Sicherheitslage, er schweigt zu den hilflosen Versuchen, die betongewordene Angst in den Kommunen mit Geschenkpapier zuzudecken und der verunsicherten Menschen mit lächerlichen Armbändern eine heilende Welt vorzugaukeln. Er schweigt zu den kollabierenden, ausgebrannten Helfern, er schweigt zu den Millionen Überstunden, die unsere Polizisten vor sich herschieben. Sein Thema ist die ungünstige demografische Entwicklung in Ostdeutschland und der Bürger argwöhnt, es könnten ihm zur Lösung dieses Problems demnächst kreative Ideen präsentiert werden, nach denen er nie gerufen hat. Sein Thema ist auch das freiwillige Engagement von Millionen Bürgern, welches die Politik jedoch stets als unabdingbar und bedingungslos ins Kalkül zieht. Dies alles hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack beim Zuhörer, weil der Staat die Probleme, die er durch Fehlentscheidungen selbst schuf, seinen Bürgern ungefragt als Aufgaben vor die Füße kippt. „Dafür ist kein Geld da, sorry – aber danke für eure Hilfe und vergelt’s Gott“. Die Helfer bei Feuerwehr, Rotem Kreuz, THW und den vielen anderen Hilfsorganisationen machen das auch gern – und freiwillig. Sie brauchen keinen Dank vom Bundespräsidenten, es würde ihnen schon genügen, wenn man sie nicht verarschen und ausnutzen würde. Denn der Dank ist vergiftet, weil das, was freiwillig geleistet wird, von der Politik längst als Selbstverständlichkeit angesehen wird. Jemanden ins Wasser zu stoßen und ihm dann zuzurufen, dass man seine freiwilligen Schwimmbewegungen bewundere…dieses Maß an Zynismus lässt mich vor Neid erblassen.
„Das Geld fehlt, wo es andernorts auch fehlt.“
Seltsam, möchte man anmerken. Hören wir nicht bei jeder anderen Gelegenheit etwas völlig anderes? Immer wenn Ausgaben gerechtfertigt oder Verschwendung von Steuermitteln relativiert werden soll, heißt es, wir lebten im besten Deutschland, das es je gab! Deutschland sei ein reiches Land! Die von den Regeln der Marktwirtschaft ungeküsste CDU-Vorsitzende von Rheinland-Pfalz, Julia Klöckner sagte unlängst „Der Staat hat gut gewirtschaftet und selbst beim Bund der Steuerzahler läuft die Schuldenuhr mittlerweile rückwärts. Bei Steinmeier-Sätzen wie „Das Geld fehlt, wo es andernorts auch fehlt“ wird die eigentliche Funktion seiner Rede deutlich. Er verteilt Schmerzmittel und Durchhalteparolen, deren Heizwert allerdings sehr gering ist. Es ist nur virtuelle Wärme enthalten, die einen beim Anblick einer schönen Schneeflocke durchströmen soll, während man eigentlich gerade im Schnee erfriert. Steinmeiers Subtext sagt, es könnte schlimmer kommen – eine Vermutung, die sich Tag für Tag bestätigt.
Rechenschaft? Fehlanzeige!
In einer Woche werden wir auch die zweite dieser funktionslosen Reden über uns ergehen lassen und auch die der Kanzlerin werden wir nach besten Kräften ignorieren, weil sie uns nichts zu sagen haben wird, außer „Das macht ihr aber fein! Macht schön so weiter“. Dabei wären beide Reden eigentlich eine perfekte Gelegenheit, Rechenschaft abzulegen vor dem Souverän, dem Volk. Präsident und Kanzlerin sprechen direkt zu uns, ohne Vermittlung von Politikerkollegen, ohne den Interessenfilter von Journalisten. Doch haben wir beide nicht gewählt und deshalb sprechen beide zu uns, als hätten wir nichts mit ihnen zu tun. Sonst könnte man erwarten, dass wir bei solchen Gelegenheiten nicht erfahren, was wir das ganze Jahr über getan haben, sondern was die Lenker dieses Staates mit ihrer Zeit, unserem Mandat und unserem Geld angefangen haben und was ihre Pläne und Ideen für unsere Zukunft sind. Schließlich sind weder Steinmeier noch Merkel Ärzte, in deren Sprechstunde man geht, nur um zu erfahren, dass es uns eigentlich gut gehe und bald noch viel besser gehen werde. Denn während wir uns in diese Sprechstunde schleppen, den Kopf voll mit Sorgen über unsere Sicherheit, steigender Abgabenlast und bedroht von Altersarmut, um uns ein präsidiales Schulterklopfen abzuholen, stellen wir wieder einmal fest, dass uns nichts von unserer politischen Klasse trennt, außer der Realität. Diese Realität hat auf der einen Seite die glänzende Oberfläche des „Landes, in dem wir gut und gerne leben“, während die Unterseite von Jahr zu Jahr rauer wird. Aber dort scheint die Sonne der Aufmerksamkeit nicht hin. Weder die des Präsidenten, noch die der Kanzlerin.
Bundespräsident Steinmeier wünsche ich, er möge einen besseren Redenschreiber finden. Allen Leserinnen und Lesern wünsche ich ein frohes Fest. Kümmern Sie sich nicht um leere präsidiale Reden, verbringen Sie es so, wie Sie es für richtig halten.
Rabenspiegel