In diesem Jahr gibt es etwas zu feiern in der Westlichen Welt. 100 Jahre ist es her, dass sich Briten und Franzosen über die Aufteilung des Nahen Ostens im Sykes-Picot-Abkommen einigten. Ein Plan, ein Geheimplan, von so ungeheurer Bedeutung, dass es heute nicht an schlauen Experten mangelt, die uns dessen Intensionen, Webfehler und die finsteren Absichten der handelnden Parteien erklären. Ein Ergebnis dieses Plans ist zweifellos die epidemische Vermehrung der Spezies Homo Sapiens Nahostexpertensis – auch wenn dies wohl eher als Kollateralschaden gelten muss. Glyphosat wird eben doch nicht mit jedem Unkraut fertig.
ARTE klärt auf
Der Erklär- und Kultursender ARTE nimmt zum Jubiläum eine Dokumentation ins Programm: „100 Jahre Krieg in Nahost – Das Sykes-Picot-Geheimabkommen und seine fatalen Folgen“
Eine Explosion zu Beginn erhöht die Aufmerksamkeit und schon beobachten wir IS-Terroristen beim Niederreißen von Grenzanlagen zwischen Syrien und dem Irak. Sykes-Picot ist Geschichte, der IS hat gesprochen. Und die Stimme des Sprechers aus dem Off sagt
„Mit dem Eindringen der Kolonialmächte beginnt eine lange Geschichte des politischen Islams, des Terrors.“
Damit sind also nicht nur Linien in Sand und Generalstabskarten, sondern auch rote Linien im Drehbuch gezogen. Ursache und Wirkung sind klar benannt, das kann ja heiter werden. Es folgt eine Einführung in die Pläne des kolonialen Westens und wem danach noch nicht klar ist, wer hier Täter und wer Opfer ist, hört den Sprecher sagen:
„Ägypten gehörte auch mal zum osmanischen Reich, wurde aber bereits vor dem ersten Weltkrieg vom britischen Empire erobert“
Ich frage mich, wie das osmanische Reich wohl zu Ägypten gekommen ist. Durch Schenkung, Volksabstimmung oder Gebete? War es womöglich schon immer „osmanisch“? Bevor Pharao Ramses ein Ankh nach mir wirft, löse ich auf: Nein, vorher waren die Mamelucken da, davor verschiedene Araber, Byzantiner, Römer, Griechen…und eine tausende Jahre lange Reihe von Pharaonen.
Aber zurück zu den Osmanen, genauer zum osmanischen Empire, denn genau das war es. Ein auf Expansion und Kolonisation ausgelegtes Empire – kein kuscheliger Diwan aus Kissen, Pluderhosen und Eunuchen, die tagein tagaus türkischen Honig naschten. Die Wiener in ihrem „goldenen Apfel“ werden sich vielleicht erinnern…wenn auch nur dank Überlieferung, Kaffee und Kipferl. In der ARTE-Dokumentation sind aber nur die Briten und Franzosen „Eroberer und Kolonialisten“ – dabei gab es zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts nur Kolonialisten, Kolonien und Garnichts. Von Island und den Vereinigten Staaten einmal abgesehen, gab es nirgends eine Demokratie, die den Ansprüchen des Filmautors Alexander Stenzel oder von ARTE Stand gehalten hätten.
„Die Christen in Uniform sind nicht willkommen – doch sie bleiben Jahrzehnte“ fährt der Sprecher fort. Ja, manchen Besuch wird man nur schwer wieder los. Hätte es aber nicht „Christen in Uniform“ gegeben, könnten wir uns heute schwerlich über die Ausbreitung des militanten Islam unterhalten, weil es außer dem militanten Islam wahrscheinlich nichts gäbe auf der Welt. Außerdem ist es eine unhaltbare Unterstellung, dass die Kolonialmächte zuallererst als Christen wahrgenommen wurden. Ich hoffe, die Stimme aus dem Off lässt bald die wirklichen Gladiatoren der Nahost-Expertise auftreten, denn was bisher zu hören war, konnte kaum überzeugen. Ah, da kommen sie ja schon…
Auftritt Walid Kazziah von der amerikanischen Universität Kairo: „…die Unterdrückung fremder Völker ist ein gängiges außenpolitisches Instrument europäischer Staaten“
Was bitte wurde zerstört, wenn es doch nichts gab? Kein Staat, keine Struktur, nichts. Wurde also „das Nichts“ zerstört? Das war sicher der größte Scoop, seit in Homers Odysee Niemand Polyphem blendete. Doch da ist schon wieder die Stimme des Sprechers, der verkündet „…die Unterdrückung fremder Völker ist ein gängiges außenpolitisches Instrument europäischer Staaten“ Ja, so war das 1916. Genau wie Unterdrückung ein, nein, das außenpolitisches Instrument aller Staaten dieser Zeit war, wenn sie sich ihren Nachbarn oder Kolonien irgendwo auf dem Planeten gegenüber stark genug fühlten.
Und weiter heißte es „Wie schon in den Ersten wird der nahe Osten auch in den Zweiten Weltkrieg hineingezogen, einen ursprünglich europäischen Konflikt“
Das Osmanische Reich war mit dem deutschen Reich im ersten Weltkrieg verbündet. Da kann man kaum vom „hineinziehen“ sprechen. Im zweiten Weltkrieg war die Sache noch eindeutiger. Die Araber sympathisierten mit Hitler, der Mufti von Jerusalem war gern gesehener Gast beim Führer aller Antisemiten. Die Hauptinspirationsquelle militanter muslimischer Organisationen im nahen Osten jener Zeit waren SA und SS – den „deutsche Gruß“ kann man bis heute bei Hamas und Hisbollah bewundern, genauso wie den dort allgegenwärtige Kadavergehorsam. Diese ARTE-Dokumentation braucht dringen noch mehr Sachverstand, und der kommt wie aufs Stichwort.
Auftritt Myriam Benraad von der Universität Aix-Marseille: „…das moderne Denken wurde durch die Besatzer eingeführt. Das ist der Ursprung des politischen Islams, der gegen die Trennung von Religion und Staat, gegen Säkularismus, gegen Laizismus, aber genau diese Trennung war das Prinzip der Regierungen, die von den westl. Mächten eingesetzt wurden. Der politische Islam war eine Reaktion auf die Fremdherrschaft durch die Europäer.“
Dieser Satz ist mit großem Abstand das dämlichste, (Excusez-moi, Madame), was in letzter Zeit irgendjemand über die Entstehung des politischen Islam gesagt hat. Aber gehen wir logisch und Punkt für Punkt vor: Wenn Politik, wie auf Wikipedia nachzulesen, „…die Regelung der Angelegenheiten eines Gemeinwesens durch verbindliche Entscheidungen“ ist und der Islam sich seit seiner Machtergreifung in Medina als die einzige regelnde Instanz menschlichen Lebens versteht – ich denke, Sie können mir noch folgen, Frau Benraad – war der Islam schon immer politisch, ergo politischer Islam. Insbesondere deshalb, weil der Islam, wie Sie selbst richtig feststellten, jede Form von Säkularisierung und damit Machtverlust ablehnt und verdammt. Was bitte haben die Europäer in dieser Gleichung zu suchen?
Ich hoffe, es kommen noch wirkliche Experten in dieser Dokumentation vor, denn der bisher vergossene Sachverstand benetzt kaum den Boden.
Auftritt Behanam Said, Islamwissenschaftler vom Hamburger Verfassungsschutz: „Der Schleier diente [den Besatzern] dazu, die Minderwertigkeit der Religion des Islam darzustellen. Gleichzeitig waren diejenigen die dann so vehement für die Entschleierung der Frau eintragen nicht unbedingt diejenigen, die auch zuhause in der Heimat in Frankreich oder Großbritannien zu den fortschrittlichsten Befürwortern des Feminismus gehörten“
Das waren jetzt eine Menge Konjunktive, Herr Said, aber geschenkt. Die Kurve zeigt am Ende des Satzes in eine ganz eigene Richtung. Denn wisse, nur wer sich auch zuhause in vorbildlicher Weise als Feminist aus der Zukunft der 70er bis 90er Jahre erweist, darf arabische Frauen in den 40er Jahren vom Schleier befreien. Darauf besteht Herr Said! Er hätte auch sagen können „Du hast doch keine Ahnung von Menschenrechten, lern erst mal Arabisch“ oder, um es einem Volk von 80 Millionen Bundestrainern zu erklären „Das war Abseits, ihr seid doch alle keine Fußballexperten! Klappe zu!“
Die Stimme aus dem Off löst die überforderten „Experten“ wieder ab und streut einige Blumen des Friedens und der Hoffnung unter die Zuschauer: „Mit dem Ende des zweiten Weltkrieges hoffen die Araber, dass die Zeit der Unterdrückung anderer Völker vorbei sei.“ Nicht wirklich, denke ich. Denn die ach so friedlichen arabischen Völker waren es, die 1948 einen Krieg gegen den soeben gegründeten Staat Israel vom Zaun brachen – und hier kommt Expertin Myriam wieder ins Spiel:
„Für die Nationalisten wie die Islamisten war die Gründung Israels die Fortführung des Kolonialismus …in einem Klima der Demütigung. Das ist sehr wichtig, weil ich glaube, dass hier eine Kultur der Gedemütigten entstanden ist.“
Es ist aber auch ein Kreuz mit den Juden. Die wollten einfach nicht verlieren! Das ist natürlich demütigend und demzufolge „Kolonialist“ die perfekte Beschimpfung für Menschen, die teilweise schon seit hunderten von Jahren in Jerusalem, Hebron oder Jaffa lebten und dort immer wieder unter Übergriffen ihrer muslimischen Nachbarn zu leiden hatten.
Deshalb hat die arabische Welt dieses negative Gefühl der Demütigung gleich in einen „positiven Impuls“ umgewandelt und alle Juden aus ihren Staaten vertrieben, ungeachtet, ob die Vertriebenen für Israel Partei ergriffen hatten und ob sie schon seit Jahrhunderten in diesen Ländern lebten. Dass man diese Demütigung zu einer „Kultur“ entwickeln kann, konnte ich lange nicht glauben – bis ich mich etwas näher mit den Realitäten der palästinensischen NGO-Wirtschaft beschäftigt hatte. Kultur würde ich es dennoch nicht nennen. Eher schon chronische Erkrankung. Psst, es geht weiter im Film…
„Während es den Arabern nur um Boden geht, betrachten die Israelis die Auseinandersetzungen als einen Kampf der Religionen.“ Genau andersherum wird ein Schuh daraus! Wenn das so wäre, warum gab es keinen Frieden nach dem Abzug Israels aus Gaza? Wenn es den Arabern nicht um Religion geht, warum vertrieben sie nach 1948 die Juden als Arabien und dem Maghreb? Warum lernen Kinder in palästinensischen Schulen, dass Juden die Ratten und Christen die Schweine sind? Wegen des Landes? Am Arsch die Räuber!
Von ARTE lernen
Was können wir froh sein, dass der ARTE-Dokumentarfilm das Sykes-Picot-Abkommen als Ursache der Gewalt im Nahen Osten ermittelt hat. Briten und Franzosen sind schuld – nochmal Glück gehabt, Westen! Die Schuldfrage ist geklärt und wir müssen nicht auf die Muslime einwirken und deren Einstellung zu Staat, Demokratie, Religionsfreiheit und Moderne zu ändern versuchen, denn da können wir womöglich garnichts machen. Womöglich ist der „Dialog auf Augenhöhe“, den wir seit Jahren mit der islamischen Welt führen nichts als ein Selbstgespräch? Sind wir schuld, müssen nur wir uns ändern und behalten scheinbar die Kontrolle über den Diskurs, auch wenn wir ihn nur mit uns selbst führen. In Zukunft werden wir einfach alles besser machen, unsere Willkommenskultur verfeinern und ausweiten, mehr Verständnis zeigen und zu unserer historischen Schuld stehen. Und der Islam? Nichts? Keine Aufgaben? Keine Voraussetzungen? Anfangs waren die Muslime Objekte unsere „kolonialen Fürsorge“, nun sind sie wieder Objekte. Diesmal solche, an denen wir unser Verständnis von Toleranz justieren. Steine, an deren Härte wir die Schärfe unserer Argumente bis zur Unkenntlichkeit glattzuschleifen versuchen. Das ist nicht ehrlicher, nicht besser, nur scheinheilig und selbstverleugnend.
Kolonialismus war vor 100 Jahren genauso Konsens wie heute Mülltrennung, Atomausstieg und EEG-Umlage. Es gehörte zum Selbstbild des Gutmenschen von vor 100 Jahren, seine Kultur anderen Völkern aufzwingen zu wollen, wie heute deren Kampf für Willkommenskultur und gegen Erderwärmung. Wie wird die Welt nach weiteren 100 Jahren aussehen? Wir wissen es nicht, kein Stück! Nicht einmal die Zukunftsforscher, die für ihr Nichtwissen schönere und zahlreichere Worte finden als wir. Die vor 100 Jahren völlig neue Angewohnheit etwa, im Sommer die Strände von Nord- und Ostsee zu bevölkern, hat sich bisher hartnäckig gehalten. Die Angewohnheit, anderen Völkern unsere Kultur aufzudrücken eher nicht. Umfragen hätten 1916 vielleicht gegenteilige Erwartungen für das Jahr 2016 ergeben.
Es ist noch keine 40 Jahre her, da waren Wissenschaftler zum Beispiel felsenfest von der Idee überzeugt, Fässer mit Atommüll blickdicht irgendwo in die Salzstöcke der aufgelassenen Asse zu werfen. Würde man diese Wissenschaftler heute noch als Experten bezeichnen? Wir trauen den Wettervorhersagen der Meteorologen für die nächste Woche nicht und packen lieber doch einen Regenschirm in den Koffer, tadeln aber unsere Vorfahren aus dem Jahr 1916, weil sie nicht nach den Regeln der UN (die es damals noch nicht gab) und des Feminismus von heute gehandelt haben. Hätte man also schon im Jahr 1916 wissen können, dass das Sykes-Picot-Abkommen mittelbar zu vielen Kriegen des 20. Und 21. Jahrhunderts führen würde oder könnte? Sicher nicht. Diese kolonialen Grenz-Federstriche erweisen sich bei rationaler Betrachtung als genauso bedeutend wie jener Sack Reis, der bei jeder Gelegenheit irgendwo in China umkippt.
Die Neigung, der Vergangenheit Naivität nachzuweisen und die Zukunft vorherzusehen, ist eine europäische Krankheit, die um epidemisch zu werden eine kritische Masse satter, gelangweilter Soziologen, Politikwissenschaftler, EU-Politiker und Dokumentarfilmer braucht, wie wir sie heute in den entwickelten europäischen Staaten antreffen. Seriöse Historiker beurteilen eine Zeit stets aus der Perspektive dieser Zeit, was auch schon oft zu spannenden Einsichten führt, wie Zweiter Weltkrieg, Holocaust und Nürnberger Prozesse zeigten. Ein hundert Jahre zurückliegendes Ereignis im Licht aktueller Erkenntnisse zu bewerten, ist Blendwerk und Selbstüberschätzung. Wer solches tut kommt womöglich zu dem Schluss, die EU sei ein „Werk für die Ewigkeit“ – und das wäre sicher ein schlechter Witz.
Alles auf Anfang – Sykes-Picot wird annulliert
Entschuldigung, war ein Irrtum das mit dem Kolonialismus! Vergesst die Sache mit den Straßen, den Schienen, dem Gesundheitssystem, den Medien, Handys, Internet und anderen Dingen, über die ihr heute dank des Westens verfügt. Wir vergessen das Öl und die Erzlagerstätten, die wir bei euch gefunden und aus denen wir uns bedient haben – auch zu eurem Nutzen. Gebt uns aber auch die Autos, Maschinen und medizinischen Geräte zurück, die wir mit dem Öl und Erz betrieben und gebaut haben. Ohne das alles währt ihr heute selbstverständlich viel viel besser dran. Unser Fehler, es tut uns leid. Hätten wir ja auch wirklich mal googeln können, damals, 1916. Liebe Araber, macht einfach das, was ihr früher immer gemacht habt…nein, bitte nicht wieder andere Stämme oder Länder überfallen und Tribute kassieren! Ihr habt doch früher so romantische Kamel-Karawanen durch die Wüste geschickt, ihr wart doch geübte Händler, wie euer Prophet! Macht halt das.
Wie bitte? Wir kaufen euch die Seide und den Weihrauch nicht mehr ab, nur Öl? Na ja, dass müsst ihr verstehen. Wir haben uns eben weiterentwickelt, den Kram von früher brauchen wir heute nicht mehr. Unsere Karawanen kommen nun aus China und Südkorea, und Kamele kommen auch nicht mehr, sondern Schiffe. Was meint ihr? Fortschritt ist doch keine so schlechte Idee? Na dann lasst uns doch mal darüber reden, wie der Fortschritt zu uns kam, wie wir uns schwer damit taten, mit all dem neumodischen Zeug. Zum Beispiel eure arabischen Ziffern mit der teuflischen Null dabei. Lasst uns darüber reden, wie uns der Fortschritt entzweite, verunsicherte und zu Kriegen mit Millionen Opfern führte. Wie oft mussten wir Grenzen revidieren, auslöschen und neu ziehen. Schauen wir doch mal, ob ein paar Linien aus dem Jahr 1916 im Sand des Zweistromlandes, mit denen die Briten und Franzosen den arabischen Teil des Kadavers des Osmanischen Weltreiches unter sich aufteilten, wirklich das Grundübel für eure heutigen verkorksten Staaten sind und Sykes-Picot euch an der Entwicklung hindert. Sind es nicht vielmehr noch ältere Linien in euren Köpfen, die euch immer wieder im Wege stehen?
Denn wisst ihr, so eine gerade Linie als Grenze hat auch ihre Vorteile. Schaut nach 4-Corners in den USA, vier Bundesstaaten grenzen hier in allerfeinster geometrischer Regelmäßigkeit aneinander. 90°-Winkel, wie die Natur sie nicht kennt. Grenzen, von Menschenhand gemacht, unbedeutend, eine Posse, ein Fotomotiv. Was der Mensch aus Grenzen macht, liegt nicht nur an denen, die sie ziehen.
Soundtrack zum Text: schon wieder Peter Gabriel, „Games Without Frontiers“