Die letzten Getreuen von Kanzlerin Merkel – viele scheinen es ja nicht mehr zu sein – warnen vor den Folgen eines wieder eingeführten Grenzregimes. Weise man jene ab, die schon in anderen EU-Staaten registriert seien, würden diese unkontrolliert „zurückfluten“, was angesichts der Tatsache, dass man uns seit Monaten erzählt, die Flut sei längst zu einem unbedeutenden Rinnsal geworden, höchst befremdlich klingt. Denn nur eine der Aussagen kann stimmen, wahrscheinlich stimmen beide nicht. Aber Merkels Getreue werden nicht müde, die angeblichen Folgen möglicher Grenzabweisungen in den schlimmsten Farben zu schildern. Die Italiener nämlich, die würden dann doch glatt überhaupt nicht mehr registrieren und die Leute direkt zur deutschen Grenze durchwinken. Was für ein prophezeiter Undank! Die Italiener wieder! Und natürlich die anderen undankbaren, die Dänen, die an ihrer Grenze zu Deutschland und der zu Schweden wieder kontrollieren. Dann die Polen, Tschechen, Slowaken, Österreicher, die Ungarn sowieso, die Slowenen…die Liste unserer Europäischen Freunde ist verdammt kurz geworden in letzter Zeit. Uneingeschränkte Zustimmung kommt derzeit nur noch ausgerechnet aus Griechenland. Um die Ironie dieser Tatsache zu begreifen, muss man weder Politikwissenschaften noch Volkswirtschaft studiert haben. Ein Blick in die Presse von 2010 bis 2015 genügt.
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In Sonntagsreden von Merkel und Co sowie auf Schwarz/Weiß Memes von Christian Lindner wird zwar immer wieder das Wort „Europa“ zelebriert, aber das ist leider längst zur Floskel oder einem zu großzügig verstreuten Gewürz verkommen, dass einem wie Zimt in die Nase steigt und zum Husten bringt. In Wirklichkeit ist das, was die EU so treibt und die Richtung, in die Deutschland diese EU seit langem schubst, die Anreicherung von politischem Spaltmaterial. „Europa“ ist das Wort, dass deutsche Politiker im Munde führen, wenn sie sich vor unbequemen Entscheidungen drücken wollen oder schlicht keine Ideen haben. „Europa“ heißt es, wenn man sich der Schwäche der eigenen Position bewusst ist und sich Rückendeckung bei einem „großen Bruder“ holen will, den niemand für Fehlentscheidungen zur Verantwortung ziehen kann. „Europa“ ist aber auch seit Jahrzehnten das Abklingbecken für gescheiterte Parteikarrieren und Heimat der Wölfin „Lupa der europäischen Bürokratie“, an deren Zitzen zehntausende Romulusse und Remusse hängen, von denen jedoch keiner, nicht einer, je eine Stadt gründen wird – viel zu viele Regeln wären dabei zu beachten. Das sie sich irgendwann gegenseitig erschlagen, womöglich wegen Grenzwertüberschreitung, ist wahrscheinlicher.
Die “Europäischen Lösungen” der Angela Merkel
„Wir müssen dafür eine europäische Lösung finden“ ist der geflügelte Satz für Aufschieberitis, Entscheidungs-, und Ideenschwäche geworden. Außerdem das Synonym dafür, dass alles, was aus „Europa“ kommt, genau die Lösungen enthalte, auf die man gehofft habe. Wenn man aber jede Entscheidung an die EU delegiert, muss man deren Verdikte natürlich auch klaglos hinnehmen – und genau das tut man in Deutschland. In der wahnhaften Vorstellung, perfekte Europäische Untertanen und damit Vorbild für andere Staaten zu sein, winkt die Regierung Merkel alles durch, was in Brüssel beschlossen wird. Weder der Indianer noch Deutschland kennen den Schmerz, lautet hier das Motto. Es mag zwicken und zwacken, aber man werde das aushalten. Für die Ehre, für Europa, für eine bessere Welt. Und so lassen wir uns piesacken von den Beschlüssen und Gesetzen, die uns aus Brüssel durch drittklassige Politiker mit „Gestaltungswillen“, Einheitsbrille und Scheuklappen (eine fatale Mischung) aufoktroyiert werden. Und während andere EU-Staaten mehr und mehr in den Selbsterhaltungsmodus wechseln, EU-Recht aussetzen oder sich den „Lösungen“ verweigern, die in den Parteizentralen der Grünen oder der CDU laut gedacht und in Brüssel laut verkündet werden, ruft man in Berlin in der Tradition des Korintherbriefes „Tod, wo ist dein Stachel“.
Nirgends in der EU sind die Regeln der DSGVO so hart eingeschlagen, wie in Deutschland. So hart, dass man nun an einem Gesetz strickt, dass die Folgen des Einschlages beheben soll – gewissermaßen also ein EU-Gesetz-Folgen-Verhinderungsgesetz. Nirgends wird auch das demnächst in Kraft tretende Leistungsschutzgesetz heftiger einschlagen, als in Deutschland. Genau wie bei der DSGVO kommt auch in diesem Fall die Idee für den Regulierungswahnsinn ausgerechnet aus Deutschland und man muss sich schon fragen, wie es um die „Europäische Solidarität“ bestellt ist, wenn uns unsere Freunde hier nicht in den Arm fallen um zu verhindern, dass Deutschland sich immer wieder mit den eigenen Ideen selbst die Adern freilegt.
Perverser Leidensstolz
Im letzten Schritt ist man stattdessen dabei, das Messer zu halten und Deutschland den Rest zu geben, wenn die neuen Asylregeln in Kraft treten, nach denen jeder Migrant mit irgendeinem Aufenthaltstitel zum Anker für eine beliebige Zahl weiterer Migranten werden kann. Diese Regelung würde tief ins Fleisch schneiden, Grenzkontrollen ad absurdum führen doch Deutschland würde auch dann weiterhin verkünden „Egal was Brüssel beschließt, ich kann das aushalten, ich will ein guter Europäer sein“.
Unter Merkel hat Deutschland eine perverse Art des „Leidensstolzes“ entwickelt, der turmhoch alle typisch nationalen Eitelkeiten und Verstiegenheiten überragt. Die Briten haben ihre „City of London“, die Franzosen ihren Rohmilchkäse und Ungarn ein in über 300 Jahre Kolonialzeit entwickeltes “Fremdeln” mit dem Islam und diese „Eigenheiten“ entziehen sich samt und sonders hartnäckig der Regulierung durch die EU. Die einzige Irrationalität die sich Deutschland leistet ist es, ständig gerade jene Entscheidungen zu fordern, die ihm selbst am meisten Schaden zufügen. Verstehen kann das längst niemand mehr in Europa und entsprechend sieht die politische Landkarte aus.
Überall, mit Ausnahme von Luxemburg und Belgien vielleicht, setzt sich die Politik mehr und mehr und so weit wie möglich von der linken Politik ab, die aus Berlin kommt und wenn uns unsere Medien und Politlautsprecher nicht jeden Tag ein paar Löffel von der „Europa, Europa-Sülze“ zu kosten gäben, könnte man den Verdacht haben, dass es nicht die „unsolidarischen“ Länder wie Italien oder Ungarn sind, die die EU gerade zerstören, sondern ausgerechnet der selbsternannte Musterschüler Deutschland, der seine Verachtung über die Fähigkeiten seiner Mit-Europäer und damit seine Überheblichkeit kaum verbergen kann. Was bedeutet es denn genau, wenn Tobias Hans (CDU-Ministerpräsident Saarland) bei Illner erklärt, die Italiener würden überhaupt nicht mehr registrieren, wenn Deutschland an der Grenze zurückweisen würde? Dies ist die Unterstellung, dass sich außer Deutschland in Europa niemand rechtmäßig verhalten kann oder will, und jeder nur darauf warte, von Deutschland diszipliniert zu werden. Spinnt man diesen Faden weiter bedeutet dies, dass unsere Politiker uns nicht von Freunden umzingelt sehen, sondern von Erpressern, die uns zwingen, gegen unsere Interessen zu handeln. Worin in dieser Haltung eine Idee der sich positiv entwickelnden europäischen Gemeinschaft stecken kann, erschließt sich mir nicht. Es ist doch vielmehr so, dass ausgerechnet Deutschland die Gültigkeit und Anwendbarkeit europäischen Rechts seit Jahren nach Gusto auslegt.
Wo der Champagner fließt
Stellen wir uns vor, Deutschland wäre ein Haus, in dem kostenlos Schampus und Kaviar verteilt wird. Jeder, der es über die Schwelle schafft, darf mitfeiern. Dummerweise müssen alle, die an das Schwarzrotgold wollen, über die Grundstücke der Nachbarn trampeln und manche der Partygäste geben dort sogar Auskunft über ihre Reiseziele und ihre Identität, wenn man sie zu fassen bekommt. Doch alle – oder doch fast alle – wollen in das Haus mit dem Kaviar. Was würde wohl passieren, wenn sich dort plötzlich die Türen schlössen? Glaubt ernsthaft jemand, dass es noch viele Gäste reizt, durch die Rabatten der Nachbarn zu trampeln? Diese wären mit Sicherheit heilfroh, wenn Deutschland die Türen endlich schließen würde.
Seit Jahren werden die Warnungen überbrüllt, die besagen, dass Europa und insbesondere Deutschland sich als Antrieb in einem perversen Ring des Menschenhandels engagiert, einem perfekt organisierten „Ninja-Warrior übers Mittelmeer“, das für Milliardenumsätze bei Schleppern und NGO’s und traumhafte Einschaltquoten bei Politikern der eher schlichten intellektuellen Konstitution sorgt. Spätfolgen? Ach, genießt die Show! Der Buzzer steht in Deutschland und während das Publikum voller Rührung die Rennen verfolgt, bleiben die wirklich schwachen gerade in Afrika auf der Strecke, weil sie überhaupt keine Chance haben, es auf die Boote zu schaffen. Diesem Spiel den Stecker zu ziehen, dazu war und ist Merkel nicht in der Lage und wer sich hierin gegen sie stellt, wird zum Feind erklärt. Es ist, als würde man den Gegnern des Sklavenhandels vorwerfen, wohl etwas gegen Menschen zu haben.
Der Zusammenhalt hat gelitten in der EU. Seit Jahren schon gibt es kaum Gemeinschaft stiftende Ideen für die Zukunft, sondern nur noch blumig beklingelte Solidarität, die nur mühsam die Agonie verdeckt, in der sich die Europäische Union befinden. Wir sind ein Haufen mittelgroßer bis winziger Staaten, die beschlossen haben, nie wieder Krieg gegeneinander zu führen (was gut ist) und die sich einreden (lassen), für jedes ihrer spezifischen Probleme gäbe es immer eine gesamteuropäische Lösung (was eine Lüge ist). Wir haben uns in das Korsett einer gemeinsamen Währung begeben, das bis auf Deutschland alle erdrückt, nur um den Anschein von Kompatibilität zu erwecken. Wir haben die Vertiefung der EU beschlossen, um uns den Anschein von Einigkeit zu geben und wir haben die Überwindung der Nationalstaaten beschlossen, um Gleichheit vorzutäuschen. Doch bei der ersten Gelegenheit, bei der es galt, Einigkeit bei der Bewahrung der erreichen Werte in der EU zu beweisen und eine Lösung für das Problem der Flüchtlingsströme zu finden, die kompatibel für Europa ist, hat ausgerechnet Deutschland kläglich versagt. Diese jahrelange deutsche Dysfunktionalität ist es, die andere EU-Staaten reihenweise in den Überlebensmodus oder gleich ganz aus der Vertragsgemeinschaft heraus und in den Brexit führte.
Und während Merkel in eingeübter Gipfel-Mentalität noch an europäische Lösungen glaubt, schrauben alle Staaten rings um uns herum abseits der diplomatischen Mammut-Runden an kleinen, konkreten, bilateralen Lösungen für die Probleme, die der deutschen Kanzlerin offenbar zu unwichtig sind, um sie vor Ort schnell lösen zu lassen. Es zeigt sich, dass gute Nachbarschaft und die Kenntnis der Befindlichkeiten des Nachbarn nicht durch „europäische Lösungen“ zu ersetzen sind und dass, wenn die Zentralmacht versagt, die Provinz die Probleme selbst in die Hand nimmt. Deshalb gibt es heute die Achse München-Wien-Budapest. Deshalb einigen sich Frankreich und Italien über Bootsflüchtlinge und Grenzkontrollen. Deshalb gibt es zwischen Spanien und Marokko ein Rückführungsabkommen.
Die EU befindet sich gerade auf dem Weg, sich selbst abzuschaffen. Ich würde sie aber gern erhalten. Nur eben nicht in dem Zustand, in den sie durch Bürokratie, mangelhaftes Demokratieverständnis, mieses Personal und geltungssüchtige Politiker auch und gerade aus Deutschland geraten ist. Wir müssen zurückblicken und feststellen, ab wann die Sache aus dem Ruder lief. Freihandel, gemeinsame Wissenschaftsprojekte, Erasmus-Programme für Studenten, offene Binnengrenzen…das alles hat funktioniert. Darauf kann man aufbauen. Die EU muss nicht größer, tiefer, breiter und enger werden, um ein Erfolg zu sein. Schon gar nicht taugt sie als Vorbild für eine weltweite Verbrüderungsbesoffenheit, die alle Entscheidungen – und seien es die allerkleinsten – von einer hierarchisch entrückten höheren Instanz treffen lassen will. Der heimliche Traum von einer einheitlichen Weltregierung ist die Pervertierung des Freiheitsgedankens und wäre das Ende aller eigenverantwortlichen Strukturen und damit das Ende der Freiheit selbst.
Fazit vertagt
Eigentlich würde ich jetzt gern einen Spin ins Positive machen, aber ab hier ist momentan offen, wie sich die EU weiterentwickelt. Denn vieles hängt davon ab, ob es Deutschland gelingen wird, ebenfalls in einen Überlebensmodus zu wechseln, um darin mit allen anderen EU-Staaten gleichzuziehen. Doch das kann nicht mit Kanzlerin Merkel geschehen. Ihr Rücktritt am 17. Juni wäre angesichts der Bedeutung des Tages für die Geschichte Deutschlands ein gutes Signal gewesen, aber der 18. Juni tut es natürlich auch. Niemand soll ihr vorwerfen, sie würde nur Symbolpolitik machen. Deshalb vertage ich mein Fazit auf den Abend des 18. Juni.
Herr Seehofer, Sie sind dran!