Lieber Abdel-Hakim Ourghi, Sie wissen, dass ich Sie und Ihre Arbeit sehr schätze. Ihren Beitrag auf Facebook neulich fand ich jedoch etwas zwiespältig. Sie schrieben: „Ich glaube nicht, dass die Atheisten nerven. Sie brauchen die Religionen als Thema, damit ihre von der Realität entfernte Ideologie überlebt. Mit dem Gegenstand Gott sind sie religiöser als die Anhänger der Religionen. Übrigens, von den Atheisten kann man einiges über seine eigene Religion lernen. Deshalb ist der Dialog mit ihnen unentbehrlich.“
Zunächst mal muss ich Sie in einem Punkt wirklich korrigieren. Atheisten nerven sehr wohl, und wie! Ich muss es wissen, gehe ich doch so einigen meiner gläubigen Menschen gewaltig auf die Ketten. Zumindest dann, wenn es um Religion geht. Was dieses Thema angeht, ist der Atheist nämlich eher der „Wir-müssen-reden-Typ“, während der Gläubige eher der „Es-ist-alles-gesagt-Typ“ ist.
Was aber die „von der Realität entfernte Ideologie“ angeht, müssen Sie mich verwechseln. Ich gebe zu, da gab es Ideologien. In Kommunismus oder Faschismus war für Gott kein Platz, aber dieser für Gläubige Menschen bitteren Realität verschlossen diese sich oft und marschierten unter den Bannern Stalins und Hiltlers Seite an Seite mit den Ungläubigen. Man könnte sagen, dass die Realität weder Religionen noch Ideologien beeinflusst. Die Realität ist nur beiden immer wieder im Weg. Atheismus ist keine Ideologie und hat keine Ideologie. Atheismus ist vielmehr purer, selbstgenügsamer Realismus. Präsens, nicht Futur II. Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott – nur ohne den Teil nach dem Komma.
Sie schreiben, dass man von Atheisten viel über die eigene Religion lernen kann. Das stimmt! So werden Sie feststellen, dass viele Aspekte der Religion für die meisten Atheisten genauso universell Gültigkeit haben, wie für gläubige Menschen. Mir zumindest ist kein Atheist bekannt, der dem Gebot „Du sollst nicht töten“ aufgrund seiner Ungläubigkeit prinzipiell ablehnend gegenübersteht. Andererseits hat noch kaum einen Christen das Gebot gegen den Ehebruch von irgendetwas abgehalten. Im Großen und Ganzen sind aber beispielsweise die zehn Gebote inhaltlich Konsens, ganz gleich, welcher Religion man angehört, oder eben auch nicht. Das sagt wenig aus über den Gott, dem jemand folgt. Es sagt aber viel aus über die Qualität des Kodex, der ihm zugeschrieben wird.
In jeder Religion steckt auch kulturelle Leistung und menschliche Anstrengung. Und die können Atheisten oft so stark verehren, dass es für Gläubige wie die Auseinandersetzung mit dem „Gegenstand Gott“ aussieht. Ich bezeichne mich zum Beispiel gern als „Kulturchrist“, was mein Verhältnis zu den Früchten dieser Religion gut zusammenfasst. Habe ich erwähnt, dass meine Lieblingsstadt ausgerechnet Rom und mein Lieblingsort dort ausgerechnet eine besondere Kirche ist? Man muss sich auch nicht wundern, dass Atheisten so viel über Gott sprechen – Ärzte sprechen ja auch unentwegt über Krankheiten. Aber zum Glück sind ja nicht alle Atheisten solche „Ärzte“, das wäre ja unerträglich!
Dabei gab es Atheisten immer schon. Es muss sie auch geben, weil es ohne Unglaube auch keinen Glauben geben kann. Kein Ja ohne Nein, kein Licht ohne Schatten. Wer Glauben findet, kann ihn auch wieder verlieren. Damit ist es wie mit dem „bis der Tod euch scheidet“ – ein Ideal. Im Zweifel blieben früher der Atheist und sein abgelegter Glaube ebenso zusammen, wie das zerstrittene Ehepaar, denn der Kodex sah eine Trennung nicht vor. Im Islam ist das heute noch so üblich.
Lackmustest für Religionen: ihr Umgang mit Atheisten
Religion sollte eigentlich das Verhältnis eines Menschen zu Gott (Singular oder Plural) definieren – in Wirklichkeit definiert es aber in vielen Religionen ausschließlich das Verhältnis des Einzelnen zu der Gruppe, in der er lebt. Besonders in muslimischen Gesellschaften ist es deshalb vielen Menschen gar nicht möglich, sich zu ihrem Unglauben zu bekennen, weil sie das gesellschaftlich komplett isoliert und im schlimmsten Fall ihr Leben bedroht. In westlichen Gesellschaften ist das Gesetz die Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenlebens, nicht ein religiöser Kanon. Das Gesetz mag religiös inspiriert sein, enthält aber prinzipiell Regeln, die nicht vom Glauben abhängig sind. Ich habe Rechte zuerst als Mensch, dann erst als Gläubiger. Das Gesetz schützt den Glauben, verlangt aber nicht nach ihm.
Wieviele der täglich fünfmal betenden Muslime, mögen wohl in Wirklichkeit Atheisten sein? Wieviele von ihnen haben in Wirklichkeit ihren Glauben verloren, können und wollen aber nicht aus der Gemeinschaft austreten, die sie täglich umgibt? Wieviele Menschen müssten um ihr Leben fürchten und behalten ihren Unglauben deshalb für sich? Aber da nicht Gott sie fragt, sondern die sie umgebenden Menschen, ist es leichter zu sagen „ich glaube“. Selbst dann, wenn es eigentlich nicht wahr ist.
Im Gegensatz zu einigen Religionen hat der Atheismus aber keine Agenda, keine Mission. Sein Ziel ist es nicht, der Welt den Glauben auszutreiben. Aber er ist ein gutes Mittel, um den Glauben ehrlich zu machen. Wenn es in einer Gesellschaft nämlich möglich und ungefährlich ist, nicht zu glauben, gewinnt der Glaube für den Einzelnen an Wert. Man muss nicht sagen „ich glaube“ – tut man es dennoch, glaubt man wohl wirklich.
Indem die Gesellschaft den Atheismus akzeptiert, befreit sie die Gläubigen von Zwang, Falschheit und Lüge. Deshalb hat Abdel-Hakim Ourghi recht, wenn er sagt, man könne im Dialog mit Atheisten viel über die eigene Religion erfahren. Der Dialog mit Atheisten ist vielleicht sogar wichtiger als der mit Andersgläubigen, von denen man im Zweifelsfall einfach behaupten kann, sie würden Gott beim falschen Namen nennen. Toleranz zeigt sich erst, wenn man auch die totale Ablehnung des Glaubens ertragen kann oder akzeptiert, dass Menschen dem Glauben den Rücken kehren. Sie mögen dann keine Gläubigen mehr sein, Menschen sind sie jedoch immer noch. Menschen mit unveräußerlichen Rechten, die man in Deutschland im Grundgesetz nachlesen kann.
Viele Christen, die aus ihrer Kirche ausgetreten sind, oder Muslime, die sich nicht mehr um Ramadan oder Pflichtgebete kümmern oder Juden, die den Sabbat eher großzügig auslegen, würden sich nicht als Atheisten bezeichnen. Sie hätten sich säkularisiert, emanzipiert, würden „die Sache“ einfach lockerer angehen. Wenn man mit ihnen ins Gespräch kommt, stellt man fest, dass sie sich große Teile ihrer Spiritualität bewahrt haben. Nur die wenigsten würden sich als ungläubig bezeichnen. Was sie dagegen ablehnen, ist die Institutionalisierung des Glaubens durch den Menschen. Ich messe den Grad an Freiheit in einer Gesellschaft auch daran, wie durchlässig sie für die verschiedenen Spielarten des Glaubens ist. Wenn man zum Glauben kommen kann, gibt es auch den Weg heraus, wer zum Islam konvertieren kann, muss auch zum Christentum konvertieren dürfen oder dem radikalen Vegetarismus frönen.
In einem Gespräch mit einem Muslim, dem ich versuchte die Gedankenwelt eines Atheisten zu erklären, fiel der Satz „Aber man muss doch an Gott glauben“. Meine Nachfrage, ob es ihm genügen würde, wenn ich ihm dies bestätigen würde, bejahte er. Es sei aber nur ein Satz, erwiderte ich. Ich könnte lügen. Was bringt es dir also, wenn ich sage, dass ich an Gott glaube? Verschafft mir eine Lüge deine Achtung, während du mich für die Wahrheit verachtest? Was sagt mir das über Dich?
Von diesem Muslim habe ich nie eine Antwort erhalten. Wie sehen Sie das, Herr Abdel-Hakim Ourghi? Was lernten Sie vom Atheismus?