Antje Sievers über den deutschen Kampf gegen die Empirie.
Wir schrieben das Jahr 2001, unser klimatisierter Bus rollte durch die Vororte von Kairo, während unser einheimischer und stets etwas mürrische Reiseleiter die Gegend erklärte. Sein Tonfall änderte sich von scherzhaft heiter zu abschätzig neidisch, als er auf einige vergleichsweise teuer aussehende Gebäude auf Hügeln in der Nähe hinwies. In Erinnerung ist mir geblieben, dass es ihm eines dieser Gebäude besonders angetan hatte. Dieses, so sprach er, ohne seine Geringschätzung zu verbergen, gehöre der berühmten Tänzerin „X“ – ihr Name ist mir leider entfallen. Es folgen einige beleidigende Bemerkungen und Unterstellungen, die keinen Zweifel daran aufkommen ließen, was unser Reiseleiter von Damen wie „X“ hielt. An diese Anekdote musste ich denken, als ich die ersten Seiten von Antje Sievers Buch „Tanz im Orient-Express“ las, auf denen sie darlegt, wie sich das Ansehen von Tänzerinnen im arabischen Raum im Laufe der Zeit verändert, vulgo verschlechtert hat.
Bauchtanz also. In den hatte sich die Autorin verliebt, weshalb sie beharrlich und nicht ohne Fortune ihre Karriere in dieser Kunst vorantrieb. Am Ende hatte sie eine eigene Schule für orientalischen Tanz in Hamburg und bildete Tänzerinnen aus aller Welt aus. Bauchtanz, das ist geradezu das Klischee von „1001 Nacht“ und Multikulturalismus, dass im Deutschland der 80er und 90er Jahre wellenartig durch das Land zog. Exotische Klänge und Kostüme, adaptiert von selbstbewussten Mädchen und Frauen aus dem Okzident, die damit ein Ticket für den Film „Das Beste aus beiden Welten“ gelöst zu haben glaubten. Bauchtanz und Currywurst gewissermaßen. Auch Sievers zogen Klänge und Stimmung in ihren Bann, je weiter sie jedoch im Laufe der Zeit in die Kultur und Lebenswirklichkeit arabischer Provenienz vorstieß, umso anstrengender wurde für sie der Spagat zwischen ihrer freiheitlichen Prägung, ihrem Feminismus und ihrer Liebe zu einer Kunst, die sie zu der ihren gemacht hatte auf der einen Seite und den Lebenswirklichkeiten arabischer Kulturkreise auf der anderen.
Das Buch befasst sich eben gerade nicht mit theoretischen Abhandlungen. Es ist vielmehr ein Protokoll soziologischer Feldstudien und persönlicher Erfahrungen, ein Logbuch der Empirie, in dem fast beiläufig Fall um Fall geschildert wird. Einzelfall um Einzelfall, wie man heute wohl sagen müsste. Doch das für den Leser vielleicht verblüffendste ist sicher die Tatsache, dass die Fälle eben nicht erst in der Zeit nach 2015 angesiedelt sind, sondern teilweise viel früher. Anders als heute, wo Fälle von Ehrenmord oder Vergewaltigung aufgrund der alerten Gesamtstimmung im Land schnell große (wenn auch keine mediale) Aufmerksamkeit erlangen, versandeten solche Fälle in der Vergangenheit recht schnell unter dem typischen Hefeteig deutschen „Nicht-wahrhaben-wollens“ sich bildender kultureller Parallelität, den wir immer noch sturstrax für Toleranz und Menschlichkeit halten. Es gab aufgrund der geringen absoluten Fallzahlen lange Zeit auch keinen Grund, mit statistischen Spitzfindigkeiten gegen die Stimmung in der Bevölkerung zu agitieren. Doch gerade diese Erfahrungen – auch die Erfahrungen anderer – sind es, auf denen die veränderte Einschätzung der Sicherheitslage durch die Bevölkerung heute beruht. Und diese Empirie sagt, dass sich die Sicherheitslage in unserem Land massiv verschlechtert hat und was die Ursache dafür ist. Ganz besonders und in vielerlei Hinsicht für Frauen, deren Gleichberechtigung, ihr Sicherheitsempfinden, ihre Möglichkeiten zur sozialen Interaktion und ihre Zurückdrängung aus dem öffentlichen Raum, die sie aus eigenen Sicherheitserwägungen hinnehmen.
Sievers Buch ist ein bestürzendes Dokument ihrer eigenen Erfahrungen, die sie geschickt mit den Berichten anderer engagierter Frauen wie Necla Kelek und Zana Ramadani und Männern wie Bassam Tibi und Hamed Abdel Samad verbindet. Es sind die Erfahrungen einer Frau, die weit und ohne Scheu in eine Welt vorgedrungen ist, die wir allzu lange und allzu naiv vor allem aufgrund ihrer schillernden Oberfläche beurteilt haben. Doch weder wohnt unter Glitzer-Pajetten die Selbstbestimmung der Frau, noch ist das Leben unter islamisch/orientalischen Wertvorstellungen so süß wie Baklava.
Allen, die sich zur Einschätzung der Lage in unserem Land nicht auf die Verlautbarungen des Regierungssprechers oder die Umfragen der Bertelsmann-Stiftung verlassen möchten, sei dieses Buch dringend zur Lektüre empfohlen. Für Frauen, die sich mit dem Gedanken an eine Konversion zum Islam tragen, die glauben, ein Kopftuch zu tragen, würde nichts für sie ändern oder die planen, mit ihrem marokkanischen Geliebten in dessen Heimat zu ziehen, sollte für dieses Buch dringend Lesepflicht gelten.
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