X. Thermidor 1794: Charles Henri Sanson, der Henker von Paris, waltet seines Amtes und exekutiert in schneller Folge die Brüder Robespierre, Saint-Just, Couthon und einige weitere Vertreter des „Grande Terreur“ auf dem Place de la Concorde. Man hatte die Guillotine zu diesem Zweck wieder in mitten der Stadt aufgebaut, nachdem man sie kurz vorher erst an den Rand der Stadt verlegt hatte. Die Anwohner konnten den Anblick und besonders die Geräusche nicht mehr ertragen: drei kurze metallene Schläge schnell hintereinander, die das herunterklappen des Brettes mit dem Delinquenten, das schließen der eisernen Halbmode um den Hals und der herabsausende Stahl verursachte. Der ganze Vorgang dauert pro Person eine halbe Minute, Sanson ist ein geübter Mechaniker des Todes.

X. Thermidor 2017. Die Sonne geht morgens noch auf und die Vögel singen immer noch ihr Lied, alles scheint in bester Ordnung zu sein in Deutschland. Alles ist bestens geregelt, die Demokratie läuft, die Kioske hängen voller meinungsstarker Blätter, die man nur pflücken muss, um die Wahrheit zu erfahren, und für schlappe 17 Euro im Monat kommen bewegte Bilder von bewegten Menschen, die etwas bewegen, in unsere Wohnzimmer. Und über allem wacht die ewige Kanzlerin aus ihrer futuristischen Regierungswaschmaschine am Spreeufer.

Aber riechen Sie das nicht auch? Dieser eigenartige Geruch von verbranntem Papier, der in der Luft liegt? Und was ist mit der eigenartigen und verunsicherten Stimmung, die überall zu spüren ist? Dieses allgegenwärtige Misstrauen, die Gerüchte und Verdächtigungen, gewisse Kreise würden zum Beispiel aktiv am Untergang Deutschlands arbeiten. Manche glauben genau zu wissen, dass Tag für Tag „Dutzende Busse voll mit Schwarzafrikanern“ über den Brenner gebracht werden, die dann spurlos in Deutschland verschwänden. Andere wissen ganz sicher, dass die AfD am Untergang der Demokratie ganz allgemein arbeitet und nach ihrer erträumten Machtergreifung sofort Lager für Kinder und psychisch Kranke errichten werde. Überall trifft Gerücht auf Vorurteil und gerinnt zur gefühlten Gewissheit – dies ist derzeit die vorherrschende chemische Reaktion in Deutschland.

Historische Vergleiche drängen sich heute geradezu auf, etwa mit dem Zustand der „Grand Peur“, der „Großen Furcht“ im August des Jahres 1789 in Frankreich, als es wilde Gerüchte über eine Verschwörung der Aristokratie gab, und sich Städte und Dörfer gegen anrückende Räuberbanden und fremde Heere rüsteten, die jedoch nie kamen. Es wurde viel gesehen, berichtet und vermutet – aber nichts gewusst. Aber Gerüchte gab es, die alle auf Tatsachen beruhten, die der Freund einer Tante dem Neffen ihrer Nachbarin anvertraut hatte. Und wenn man die Pike schon mal in der Hand hat und die Räuberbanden ausbleiben, kann man sie auch gleich gegen den verhassten Adel richten, der, das weiß man sicher, sich mit Vorliebe in den aufgeschlitzten Bäuchen der Bauern die Füße wärmt, wenn er nach einem schönen Jagdausflug abends kalte Füße hat. Die Französische Revolution nimmt ihren Lauf und doch dauert es noch fast fünf Jahre, bis Frankreich 1794 unter Maximilien de Robespierre im „Großen Terror“ knietief im Blut versinken wird. Dabei hatte alles so hoffnungsvoll begonnen: Nationalversammlung, Deklaration der Menschenrechte, volle Bürgerrechte für Juden, Liberté, Égalité, Fraternité…und drehte doch irgendwann ins Wahnsinnige, Ideologische, wie etwa die verpflichtende Einführung des „Republikanischen Kalenders“ oder veränderte Prozessordnungen zeigten. Um Verfahren gegen „Feinde der Revolution“ zu beschleunigen, reichte es schließlich aus, solange zu tagen, bis sich Richter und Schöffen ein „ausreichendes Bild“ von der Schuld der Angeklagten gemacht hatten – was die Verfahren tatsächlich sehr verkürzte. Wurde ein Verdächtiger für vogelfrei erklärt, hatte das Gericht lediglich noch die Aufgabe, die Personalien des Delinquenten festzustellen, um ihn dann postwendend zu Sanson zu schicken. Was war nur schiefgelaufen? Lag es am zu großen Eifer oder doch an der übergroßen Anzahl der „Feinde der Revolution“, dass am Ende über 50.000 Menschen den Hinrichtungswellen zum Opfer gefallen waren?

Robespierres glaubte, einen „Tugendstaat“ errichten zu können, und die größte Tugend war die der Revolution selbst. Man musste nicht einmal aktiv gegen diese agieren, es genügte bereits, sie nicht leidenschaftlich genug zu unterstützen, um auf dem Schafott zu enden. In der Hochphase der Französischen Revolution erleben wir also erstmals den Übergang von der Sanktion strafbarer Handlungen zur Verurteilung strafbarer Haltungen – ein Vorgang, der uns heute angesichts hässlicher Vorfälle von politischer Sippenhaftung wieder häufiger ins Bewusstsein rückt. Wenn zum Beispiel ein Zahnarzt in Berlin massiv unter Rechtfertigungsdruck gerät, weil er der AfD nahesteht, oder Gastwirte vor dem Ruin stehen, weil sie Veranstaltungen der AfD in ihren Räumen beherbergten oder sich deren Politiker nur häufiger dort aufhalten. Von gewissen Büchern toter Autoren, die in gewissen Verlagen erscheinen, deren Inhaber die Unverschämtheit besitzen, durch den Verkauf von Büchern Geld einzusammeln, ganz zu schweigen.

Weder ist die Mitgliedschaft in der AfD strafbar, noch ist es den Mitgliedern verboten, Kneipen zu besuchen. Aber die neuen Moralgesetze gebieten den tugendhaften Menschen im demokratischen Deutschland, in solchen Fällen „Maßnahmen zu ergreifen“. In der Zeit des „Großen Terrors“ in Frankreich waren die Menschen verunsichert, wie sie sich verhalten sollten, um dem Säuberungen nicht am Ende selbst zum Opfer zu fallen. Man befleißigte sich folglich möglichst rüder, unadeliger Umgangsformen, trug die breitesten Schärpen und die größten Kokarden der Trikolore zur Schau, verließ ohne Jakobinermütze nicht das Haus und versuchte ansonsten, möglichst unsichtbar zu werden, indem man politische Betätigung, Ämter und Wahlen vermied. Wer konnte schon wissen, in welche Richtung der Wind sich drehen mochte. Heute scheint es kaum anders zu sein, denn jeder, mit dem man offiziell spricht, beeilt sich zu versichern, nichts, aber auch gar nicht mit der AfD, den Pegiden oder anderen Ultramegarechtsextremisten zu tun zu haben. Da medial bereits seit Monaten der Absturz dieser Partei in die politische Bedeutungslosigkeit beschworen wird, möchte man nicht in deren Nähe sein, wenn die Prophezeiung eintritt – oder eingetreten wird.

Heute vor 223 Jahren, am X. Thermidor des Republikanischen Kalenders, unserem 28. Juli 1794, endete der große Terror in Frankreich mit dem Tod Robespierres auf eben der Guillotine, die seine Gegner acht Monate lang teilweise im Minutentakt um Kopf und Kragen brachte. Die Überlebenden rieben sich verwundert die Augen und gingen beschämt ihres Weges. Man wollte schnell vergessen, dass man noch vor Tagen selbst den Nachbarn oder Freund der Gesinnungspolizei angezeigt und so unter das Messer geliefert hatte oder jubelnd in der Zuschauermenge stand, wenn Köpfe rollten, deren Träger das Verbrechen begangen hatten, eine Tasse mit dem Bildnis des Königs zu besitzen oder mit „Bonjour monsieur“ statt „Bonjour citoyen“ gegrüßt zu haben.

Es ist das Los jeder Revolution, ihre Kinder zu fressen – und je blutiger sie verläuft, umso lustvoller und grausamer wir der Verzehr. In Deutschland rollen keine Köpfe, man begnügt sich (noch) damit, durch Tugendterror die materielle Existenz derjenigen zu vernichten, die von ihrem Recht auf Meinungsfreiheit in anderer Weise Gebrauch machen, als die wohlgesinnte und mit gefühlter paneuropäischer Tugend aufgeladene Menge. Man glaubt, das ginge dann schon in Ordnung, weil es ja die Richtigen träfe.

Robespierre sagte zur Begründung der von ihm und seinem Wohlfahrtsausschuss eingeführten Gesetze, „Die Terreur ist nichts anderes als unmittelbare, strenge, unbeugsame Gerechtigkeit; sie ist also Ausfluss der Tugend; sie ist weniger ein besonderes Prinzip als die Konsequenz des allgemeinen Prinzips der Demokratie in seiner Anwendung auf die dringendsten Bedürfnisse des Vaterlandes.“ Außer, dass man heute das Wort Terreur durch „political correctness“ ersetzt hat, scheint sich an den Prinzipien nicht viel geändert zu haben.

Die aktuelle Thermidor-Stimmung in Deutschland sollte man jedenfalls auf Wiedervorlage legen, um in fünf Jahren nüchtern zu prüfen, wohin sie letztlich geführt hat.

360b/shutterstock

Teil 2, Liberté, fraternité, …diversité! finden Sie hier.

6
Ich mag doch keine Fische vergeben
Meine Bewertung zurückziehen
Du hast None Fische vergeben
6 von 6 Fischen

bewertete diesen Eintrag

vera.schmidt

vera.schmidt bewertete diesen Eintrag 29.07.2017 16:32:39

Matt Elger

Matt Elger bewertete diesen Eintrag 29.07.2017 09:45:51

Bachatero

Bachatero bewertete diesen Eintrag 29.07.2017 02:17:42

Aron Sperber

Aron Sperber bewertete diesen Eintrag 28.07.2017 23:43:43

Josephus

Josephus bewertete diesen Eintrag 28.07.2017 22:06:21

Margaretha G

Margaretha G bewertete diesen Eintrag 28.07.2017 20:47:15

6 Kommentare

Mehr von unbesorgt