Der kaputte Arbeitsmarkt oder die Lüge vom Fachkräftemangel

Zuerst auf meinem Blog erschienen: https://kaiserinwendigo.blogspot.com/2024/05/der-kaputte-arbeitsmarkt-oder-die-luge.html

In diesem Blogpost gehe ich von fünf Quellen aus:

meinen eigenen Erfahrungen aus den letzten vier Jahren in der Stahlbranche;

Gesprächen mit ehemaligen Vorgesetzten und Kolleg*innen aus sechs Firmen;

Gesprächen mit Angestellten vom AMS und Betreiber*innen von AMS-Kursen;

vielen Zeitungsartikeln der letzten Jahre sowie Interviews in Zeitungen und Zeitschriften;

Bücher über Ökosozialismus, Postkapitalismus, Feminismus und die Arbeitswelt, die ich in den letzten Jahren gelesen habe.

Mein Resümée lautet eindeutig: der österreichische Arbeitsmarkt ist kaputt und baut u.a. auf der Lüge vom Facharbeiter*innenmangel auf, die freudig von neoliberalen Wirtschaftsforscher*innen und konservativen Politiker*innen transportiert sowie in vielen Zeitungen leider relativ unhinterfragt nachgedruckt wird. Damit einher geht die Lüge, dass die hohe Inflation wesentlich von hohen Lohnabschlüssen angeheizt wird. Tatsache ist vielmehr, dass erstens die meisten Unternehmen aufgrund von Gier einfach pauschal ihre Preise in die Höhe geschnalzt haben - sie haben das Momentum perfekt ausgenutzt -, wir sprechen daher besser von Gierflation und nicht von Inflation. Und zweitens hat sich die ÖVP-geführte Regierung leider nicht zu den richtigen Maßnahmen - wie Preisdeckeln (außer bei Strom) - durchringen können. Aber zurück zum Arbeitsmarkt. Wie kommen wir auf die Idee, dass der Fachkräftemangel eine riesengroße Lüge ist?

Das ist relativ leicht nachzuprüfen. Geben Sie auf der Plattform "metajobs.at" den Beruf "Zerspanungstechnik" oder "Einkauf" ein und nehmen Sie beispielsweise ein obersteirisches Industriegebiet wie Leoben und einen Umkreis von 20km oder 30km. Machen Sie Screenshots aller offenen Stellen, die aufgelistet werden. Sie werden dabei sehr bekannte Firmen finden. Wiederholen Sie den Vorgang alle 4 Wochen über einen Zeitraum von 6 Monaten und Sie werden IMMER die gleichen offenen Stellen in den gleichen Firmen finden. Das hat zwei Gründe: erstens sind ein paar dieser Betriebe einfach miserable Arbeitgeber und es gibt daher eine große Fluktuation bei den Stellen. Zweitens sind gewisse Stellen PERMANENT ausgeschrieben, auch wenn sie aktuell/vorübergehend besetzt sind. Damit möchte man natürlich die Lüge des Fachkräftemangels aufrecht erhalten und bestenfalls billige Arbeitskräfte aus dem Ausland importieren. Dieser Trick funktioniert leider sehr gut. Wiederholen Sie das eben erwähnte Experiment auf der Plattform "hotelcareer.at" beispielsweise für den Job "Rezeptionistin" und das Bundesland Steiermark. Sie werden die gleichen Ergebnisse finden, mit dem Unterschied, dass es es für den Tourismus in Österreich (bereits) Kontingente gibt, über die man offiziell billige Arbeitskräfte importieren darf oder Immigrant*innen zum Mindestlohn billig ausnutzen kann. Gleiches versucht die Stahlbranche: das Ziel lautet, auf die Mangelberufsliste zu kommen und damit die Erlaubnis zu erhalten, entweder Menschen als Mindestlohnsklaven importieren zu dürfen oder Menschen, die bereits hier sind, zum Mindestlohn beschäftigen zu können. Besonders im Tourismus sind die Mindestlöhne so niedrig, dass kein erwachsener alleinstehender Mensch davon leben kann. Wir reden hier also von der Klasse der "working poor", auf der die gesamte Branche aufbaut. Und in diese Richtung will man auch in der Stahlbranche gehen.

Dem AMS und den Kursanbieter*innen ist das alles vollkommen klar, genauso weiß man das bei den Gewerkschaften und den Arbeiterkammern. Nur dagegen machen kann man nicht viel, so lange die ÖVP in der Regierung klebt.

Ein riesengroßes Problem ist noch, dass das Niveau der österreichischen Lehrlinge und Schüler*innen genauso kontinuierlich wie dramatisch in den Abgrund sinkt. Viele können im Alter von 15 Jahren keine längeren (Fach-)Texte sinnerfassend lesen, auch wenn ihre Muttersprache Deutsch ist. Das Smartphone dient hier als Verblödungsinstrument. Diese Lehrlinge werden trotzdem bis zur Lehrabschlussprüfung durchgeschleust und auch bei der abschließenden Prüfung werden sie äußerst tatkräftig unterstützt. Man produziert hier keine Nachwuchs-Fachkräfte, sondern Idiot*innen, die man niemals unbeaufsichtigt allein arbeiten lassen darf. Geschweige denn den Betrieb wechseln, denn die meisten Lehrlinge werden in ihren Lehrbetrieben äußerst einseitig ausgebildet und würden sich selbst sowie ihren Ausbildungsbetrieb bei einem Wechsel bis auf die Knochen blamieren. Auch das ist allgemein bekannt - eine Lösung ist nicht in Sicht, denn die hieße wohl Gesamt- und Ganztagesschule sowie harte Aufnahmeprüfungen. Das würde wohl anfangs in enorm erhöhter Jugendarbeitslosigkeit resultieren usw. usf.

Parallel dazu heißt es von konservativen Parteien, dass man die Lohnkosten senken möchte (was dem Sozialstaat schaden würde, aber das ist denen egal bzw. das wollen die sogar), dass die Menschen immer weniger gern in Vollzeit arbeiten würden (eigentlich klar in diesem System und nichts wofür man Rechenschaft schuldig ist), dass man Überstunden attraktivieren möchte (anstatt mehr Frauen in Vollzeit zu bringen), dass wir alle länger arbeiten sollen (anstatt den Jungen eine Chance zu geben) und dass die Lohnkosten viel zu hoch wären (was eine Lüge ist, da über die Lohnabschlüsse ohnehin nur die von den Unternehmen selbst generierte Gierflation abgegolten wurde).

Ein weiterer Punkt ist, wie respektlos man als Bewerber*in von den Unternehmen behandelt wird. Bloß ca. 50% antworten auf Bewerbungen. Zu Bewerbungsgesprächen wird man nur von bestenfalls 5% aller antwortenden Firmen eingeladen. Man wird immer als Bittsteller*in behandelt und es wird so getan, als würden die Unternehmen einem einen Gefallen tun, wenn man eingestellt wird. Abgespeist wird man schlussendlich mit nichtssagenden Mail-Standardantworten, die unpersönlicher gar nicht sein können.

Die beiden größten Punkte betreffen aber die strukturelle Frauenfeindlichkeit des auf den kinderlosen Mann ausgelegten Arbeitsmarktes sowie das Phänomen der Bullshit Jobs.

Zum ersten: Frauen werden berufsbereinigt immer noch schlechter bezahlt, weil sie Frauen sind - das wird nicht einmal mehr von Konservativen geleugnet. Und nicht-berufsbereinigt schaut es sogar noch schlechter aus: so genannte "Frauenberufe" werden generell schlechter bezahlt als "Männerberufe", obwohl "Frauenberufe" in den meisten Fällen systemerhaltender sind als "Männerberufe" (siehe Klatscherei zu Corona-Zeiten). Man denke an Lehrerinnen, Pflegerinnen, Kindergartenpädagoginnen, Reinigungskräfte usw. usf. - man würde ihr Fehlen sofort bemerken. Würde man das Fehlen von Investmentbankern, Versicherungsmaklern ebenso merken? Weiters ist es politisch gewollt, dass es noch keine ganztägige flächendeckende Kinderbetreuung gibt. Gäbe es eine solche, würden plötzliche Hunderdtausende Frauen in Ganztagesjobs strömen und dort den vorherrschenden Männern Konkurrenz machen, was diese natürlich in Gestalt von konservativen Politikern, Managern und Konzernchefs um jeden Preis vermeiden wollen. Sollte diese Revolution allerdings gelingen, müsste es auch bei unbezahlter Haus- und Carearbeit natürlich wirklich Halbe-Halbe geben - eine Horrorvorstellung für die meisten Männern im patriarchalen Österreich. Ganztägige Kindergärten müssten Frauen natürlich auch gutbezahlte Schichtarbeit oder den Posten einer Vorstandsvorsitzenden ermöglichen. Oder die Ehemänner/Partner/Kindesväter kommen von selbst drauf und teilen sich alles 50:50 mit ihren Frauen (mindblowing, ich weiß). Fazit: es gäbe genug Arbeitskräfte in Österreich, man müsste nur den Frauen Vollzeitarbeit sowie Umschulungen bzw. eine top Grundausbildung ermöglichen. Das ist aber vom Patriarchat nicht gewünscht. Also importiert man in bestimmten Branchen lieber Menschen aus Zweit- oder Drittstaaten, die man sich als Lohnsklaven halten kann.

Faszinierenderweise finden sich unter Männern auch weit mehr Betroffene von Bullshit Jobs - weitere Beispiele wie im gleichnamigen Buch aufgelistet können sein: Call Center Agents, PR- und Werbefachleute, gewisse IT-Jobs, Assistent/in der Geschäftsführung, diverse Kästchenankreuzer und Aufgabenverteiler... Dass es diese genauso unnötigen wie unglücklich machenden Jobs überhaupt gibt, ist zusammen mit der Umweltzerstörung und der Klimakatastrophe das zweite große Zeichen des Versagens des neoliberalen Kapitalismus. Besonders in den oberen Etagen von Unternehmen, wo Männer zumeist andere Männer einstellen, und wo es von einem Meeting zum nächsten geht, wo also nichts mehr wirklich produktiv geleistet wird - schon gar nichts für unsere Gesellschaft -, nimmt der Anteil an Bullshit Jobs überproportional zu.

Der Hauptgrund, dass es diese Jobs überhaupt gibt, ist, dass es im neoliberalen Kapitalismus einfach nicht möglich ist, dass es nur mehr die wirklich wichtigen Berufe gibt, in denen dann aber nur mehr 50% der Bevölkerung Arbeit finden würde. ODER man müsste die Normarbeitszeit für alle auf 20 Stunden oder noch weniger verkürzen - dann gäbe es wirklich nur mehr systemerhaltende Berufe und Vollbeschäftigung, genauso wie keine Umweltverschmutzung und kein Wirtschaftswachstum, keine Konsumgesellschaft, keinen monäteren Reichtum und also keinen Kapitalismus. Im gegenwärtigen kranken und krankmachenden System ist das unmöglich - auch deshalb muss es überwunden werden.

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stefan251

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benjaminheinrich2

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