SERIE: ÄNGSTE, ZWÄNGE, DEPRESSIONEN, SÜCHTE, AUS PSYCHOANALYTISCHER SICHT FOLGE 1 | HEMMUNGEN

Daniel hatte unbeschreibliches Glück. Fast könnte man es schon Bestimmung nennen. Die Frau, die mit ihm seit Wochen um dieselbe Zeit in der U-Bahn fuhr, saß wieder im Waggon. Vor freudiger Erregung begann sein Herz schneller zu schlagen. Schräg gegenüber von ihr war sogar noch ein Platz frei. Als er sich setzte, blickte sie kurz auf und musterte ihn ...

Stunden später lag er auf der Couch seiner Analytikerin und schwieg. Es gibt in der Analyse viele Arten zu schweigen. Sein Schweigen aber war gespannt und feindselig. Erneut hatte er es nicht geschafft, die Frau in der U-Bahn anzusprechen. Schon letzte Woche hatte ihn beim Versuch, sie kennenzulernen, der Mut verlassen. Enttäuscht, wie er jetzt war, gab er der Analyse die Schuld für sein Scheitern. Warum half ihm seine Analytikerin nicht bei der Überwindung seiner Hemmungen? Er hatte auch das Gefühl, sich vor beiden Frauen bis auf die Knochen blamiert zu haben. Gegen Ende der Stunde begründete er sein Unvermögen mit der Angst vor Zurückweisung. Das hörte sich zwar überzeugend an, ging nach Ansicht seiner Analytikerin aber am eigentlichen Problem vorbei.

Natürlich ist es dem Narzissmus eines Mannes nicht gerade zuträglich, wenn er von einer Frau einen Korb erhält. Aber um eine Körperreaktion zu verstehen, wie sie Daniel hervorbrachte, als er versuchte die Frau in der U-Bahn anzusprechen, greift diese Erklärung jedenfalls viel zu kurz. Immerhin schlug sein Herz wie wild im Brustkorb und seine Knie wurden weich. Im selben Atemzug trocknete sein Gaumen aus und seine Kehle war wie zugeschnürt. Er spürte, wie seine Nackenmuskulatur zu zittern begann. Voll Panik senkte er darauf seinen Blick und ließ es bleiben.

Seiner Analytikerin war klar, dass eine solche körperliche Reaktion Folge eines gewaltigen Adrenalinausstoßes war. Rein biologisch wird das Hormon Adrenalin ausgeschüttet, um einen Organismus in einer lebensbedrohlichen Situation auf Kampf oder Flucht einzustellen und die notwendigen Energien dafür bereitzustellen. Daniel hat in der U-Bahn nicht gekämpft. Er ist geflüchtet. Nur, worin bestand die lebensbedrohliche Gefahr, vor der er flüchtete? Welchem gefährlichen Gegner hätte er sich stellen müssen? Real war weit und breit kein Rivale in Sicht, der ihm die Frau streitig machte. Also konnte der angsteinflößende Gegner nur in seiner Fantasie existieren. Im Unbewussten, wo innere, imaginierte und äußere, beobachtbare Realität noch nicht getrennt sind, muss Daniel der an und für sich harmlosen Situation des Ansprechens eine lebensbedrohliche Bedeutung zugeschrieben haben.

Seiner Analytikerin ging ein Buch über Schimpansen durch den Kopf. Schimpansen sind die nächsten Verwandten des Menschen. Sie leben in losen Gruppen mit strenger sozialer Rangordnung. Bei ihnen ist die Paarung ausschließlich dem Alpha-Männchen, dem ranghöchsten Affen, vorbehalten. Bevor sich ein männliches Jungtier paaren kann, muss es zuerst den Alpha-Affen im Kampf besiegen. Dazu braucht es viel Mut. Denn wenn das Jungtier im Kampf unterliegt, wird es aus der Gruppe gejagt oder brutal getötet. Mit einem Mal verstand sie das Verhalten ihres Schützlings. In der realen Welt ging es bloß ums Ansprechen. In seinem Unbewussten bedeutete die Werbung jedoch, dass er dem Alpha-Affen sein Revier streitig machte und ihn zu einem tödlichen Zweikampf herausforderte.

Alphatier. Menschen werden wie Affen in Gruppen sozialisiert. Innerhalb der menschlichen Primärgruppe, der Familie, heißt das Alphatier „Vater“ und das dominante Weibchen wird „Mutter“ genannt. Wie bei allen Primaten rivalisieren die Geschwister um die Ressourcen der Eltern. Geschwisterrivalität kennt wohl jeder. Ältere Geschwister fühlen sich von jüngeren verdrängt, jüngere von älteren unterdrückt und bevormundet. Letztlich geht es immer um die Rolle des Lieblingskindes. Schon Kain erschlug Abel, weil er es nicht ertragen konnte, dass „Gott“ Vater den Rivalen bevorzugte.

Wie alle männlichen Kinder machte auch Daniel dem väterlichen Alphatier seine privilegierte Position streitig. Solange er noch nicht in der Lage war, das Kräfteverhältnis realistisch einzuschätzen, warb er sogar offen und ungeniert um die sexuelle Gunst der weiblichen Familienmitglieder. Er schlief bei der Mutter im Bett und rieb sein erigiertes Glied gerne an ihrem Körper, was sie lange Zeit mit sich geschehen ließ, so als wäre ihr die Bedeutung seines Verhaltens nicht einsichtig.

Der König ist tot. Es lebe der König. Sobald Daniel die Machtverhältnisse in der Familie jedoch verstand, gab er aus Furcht vor der Rache des Vaters, einem einfachen Mann und unberechenbaren Choleriker, seinen offenen Anspruch auf die Alpha-Position auf. Das heißt aber nicht, dass er gänzlich auf seine rivalisierenden Wünsche verzichtete. Im Unbewussten bestand die ursprüngliche Rivalität bis in die Gegenwart fort. Insgeheim wartete er noch immer auf den Augenblick, wo er den „Alten“ vom Thron stürzen und seine Position einnehmen konnte. Sobald der Augenblick der Entscheidung aber in der mit Fantasie durchsetzten Realität herannahte, machte sich die ursprüngliche Panik vor dem übermächtigen Gegner breit und er unterwarf sich – so wie in der U-Bahn.

Anders als bei Affen spielen sich die Machtkämpfe beim Menschen nur selten auf der körperlichen Ebene ab. Bei der Überwindung des Vaters handelt es sich gewöhnlich um einen innerpsychischen Reifungsprozess, bei dem der Heranwachsende die Überlegenheit des väterlichen „Alphatieres“ zuerst einmal anerkennt und sich mit seinen hervorstechenden Eigenschaften – Stärke, Mut, Schläue, Imponiergehabe – identifiziert. Später wird er diese Eigenschaften auf der sozialen Ebene erfolgreich gegen seine Rivalen im Kampf um die gesellschaftlichen Ressourcen einsetzen. Bis die Machtfrage geklärt ist, bleiben der Sohn der Herausforderer und der Vater der Revierverteidiger. Sobald ein „Vater“ zu schwach ist, sein Revier erfolgreich zu verteidigen, fällt es an denjenigen Sohn, der sich im Kampf um die Nachfolge nicht nur gegen ihn, sondern auch gegen die Rivalen aus der eigenen Generation erfolgreich durchsetzen kann. Um zu verhindern, dass sich die Söhne bei blutigen Nachfolgekämpfen zerfleischen, wurde die Erbfolge beim Menschen gesetzlich festgelegt. In vielen Kulturen tritt bis heute noch der älteste Sohn die Nachfolge des Vaters an. Der König ist tot, es lebe der König.

Auch die Reviere haben sich im Laufe des menschlichen Zivilisationsprozesses gewandelt. An den Revierkämpfen selbst hat sich hingegen wenig geändert, gleichgültig ob diese in den Wäldern und Savannen Afrikas oder in den Chefetagen von Industrieunternehmen ausgetragen werden. Damals wie heute geht es um dieselben Ziele: Nahrung und Fortpflanzungserfolg. Auch in der menschlichen Gesellschaft verfügen Alpha-Männchen über mehr „Nahrung“ – Macht, Geld, Sicherheit – und sind für Frauen als Paarungspartner wesentlich interessanter als devote Männchen.

Wenn Psychologen heute oft von Selbstbewusstsein und Durchsetzungsvermögen als positiven menschlichen Eigenschaften sprechen, ist ihnen die aggressive, mitunter sogar tödliche Bedeutung dieser Eigenschaften oft nicht bewusst. In keiner Gruppe wird einem Männchen die Alpha-Rolle kampflos zugestanden. Ein Mann, der sich in seiner Gruppe durchsetzt, kann dies nur auf Kosten seiner Rivalen tun, indem er sie geschickt ausbootet, einschüchtert oder unterwirft. Nur mutige, risikobereite Männer, die sich auch von einer möglichen Niederlage nicht abschrecken lassen, haben Chancen, in einer Gruppe die Alpha-Position zu erobern.

Wovon aber hängt es ab, ob jemand im Leben mutig seinen Mann stellt oder ängstlich verunsichert Revierkämpfen ausweicht, um sich dem jeweils Stärkeren zu unterwerfen? Darüber entscheidet beim Menschen nicht nur seine genetische Ausstattung. Genauso wichtig ist die psychosoziale Prägung durch die Dynamik in der Primärgruppe.

Daniels Vater, ein einfacher Mensch und gewaltbereiter Choleriker schüchterte seinen Sohn nicht nur ein, sondern verstärkte gleichzeitig auch dessen feindselige Impulse ihm gegenüber. Je unerbittlicher und grausamer der Vater seine Macht gebrauchte, umso intensiver wurde er von seinem kindlichen Widersacher gehasst. Wäre Daniel als Kleinkind dazu in der Lage gewesen, hätte er seinen Vater genauso vertrieben oder getötet, wie es herangewachsene Jungaffen mit einem alternden Alphatier tun, wenn sie es im Kampf besiegt haben.

Unterwerfung. In Ermangelung der realen Machtmöglichkeiten unterdrückte er seine Hassimpulse gegenüber dem Vater nicht nur, sondern verkehrte sie aus Angst vor Entdeckung und der befürchteten Rache ins Gegenteil. Damals gab er vordergründig seine männliche Identität auf und verhielt sich dem Vater gegenüber so, als wäre er geschlechtsneutral. Gleichzeitig spaltete er die sexuelle, weibliche Komponente von der Mutter ab und idealisierte sie zu einer asexuellen Heiligen.

Unterwürfiges, devotes Verhalten bei Männern entspringt immer einer Aggressionshemmung. Eine starke Hemmung weist auf starken Hass. Es kommt nicht von ungefähr, dass gehemmte Menschen Blickkontakt vermeiden. Auch viele Tiere tragen, um Verletzungen zu vermeiden, ihre Revierkämpfe durch beharrliches gegenseitiges Anstarren aus. Wer als Erster den Blick senkt und sich zurückzieht, hat den Kampf ums Revier verloren. Auch unter Menschen wird der direkte Blickkontakt oft noch als offene Herausforderung gewertet und das Vermeiden als Zeichen von Unsicherheit und Schwäche. Gerade beim Paarungsverhalten des Menschen spielt der Blickkontakt, der wortlose Flirt mit den Augen, eine entscheidende Rolle.

Ein Mann wie Daniel, der Hemmungen hat, einer Frau offen in die Augen zu blicken, hat das Werbungsspiel meist schon verloren, noch ehe es richtig begonnen hat. Indem er den Blick zu Boden richtet, unterwirft er sich dem imaginären väterlichen Rivalen aus der Kindheit. Dieser lebt im Unbewussten der begehrten Frau genauso fort wie in seinem.

Ein Mann, dem es hingegen gelungen ist, seine Angst vor dem Vater zu überwinden, wird es im späteren Leben leichter fallen, um die Rolle des Alphatieres zu konkurrieren. Er wird Mut an den Tag legen und unvermeidlichen Rivalitätskämpfen nicht ausweichen. Die Art und Weise, wie er sein Revier verteidigt oder das seiner Widersacher angreift, wird potenziellen weiblichen Sexualpartnern imponieren. Er signalisiert damit seine Bereitschaft, seine Frau und ihren gemeinsamen Nachwuchs gegenüber Feinden zu verteidigen.

Das, was einem Mann das Erobern einer Frau erschwert, ist seine Urangst, in der Rivalität um das Sexualobjekt von einem anderen Mann unterworfen zu werden. Dieser Unterwerfungsakt wird von den meisten Männern als Kastration erlebt. „Fuck or get fucked“, heißt die Devise nicht nur in amerikanischen Gefängnissen. Männer, die sich zur Wehr setzen und sich von einem männlichen Artgenossen nicht zur „Frau“ machen lassen, haben beim anderen Geschlecht einfach die besseren Karten. Auch wenn es viele nicht wahrhaben wollen, sind Männer, die weinen statt zu kämpfen, selbst bei Frauen unten durch, die lieber pfeifen, statt mit Puppen zu spielen.

Grundsätzlich lassen sich zwei Gruppen von Hemmungen unterscheiden: sexuelle Hemmungen und Aggressionshemmungen. Aggressionshemmungen äußern sich meist in Form von sozialen Ängsten, Kontaktängsten, Schüchternheit, erhöhter Neigung zu Erröten und betont aggressionsloser Sexualität. Sie können die gesamte Persönlichkeit (dann spricht man von einer gehemmten Persönlichkeit) oder nur einzelne Verhaltensweisen, zum Beispiel die Kontaktaufnahme oder die Fähigkeit, Nein zu sagen, betreffen. Sexuelle Hemmungen sind meist Folge einer sexuellen Fixierung an frühkindliche Bezugspersonen, die im späteren Leben mit dem Inzesttabu belegt wurden. (Daher erlebt jedes Kind seine Eltern als asexuell.) Beim Mann führen Hemmungen oft zu Erektions- oder Potenzstörungen, bei Frauen können sie die Orgasmusfähigkeit wesentlich beeinträchtigen. Auch sexuelle Lustlosigkeit – die beide Geschlechter in gleicher Weise betrifft – kann Ausdruck einer Hemmung sein. Allen Hemmungen ist eines gemeinsam: Die Hemmung einer psychischen Funktion weist auf einen unbewussten Wunsch, dessen Befriedigung durch den Hemmungsvorgang unterbunden wird.

Zulassen oder kontrollieren? Markus, 34, ist seit sieben Jahren verheiratet und Vater eines vierjährigen Sohnes. In den letzten Jahren war das sexuelle Interesse in ihrer Beziehung zwar abgeflaut, aber Markus fand trotzdem, dass er und seine Frau eine gute Ehe führten. Markus war durch und durch ein glücklicher Familienvater. Bis er eines Tages von seiner Firma zu einer einwöchigen Fortbildung geschickt wurde. Dort lernte er Sabine kennen, in die er sich auf der Stelle verliebte. Sabine war einem Flirt mit Markus durchaus nicht abgeneigt. Das machte die Sache für ihn nicht gerade leichter.

Seit er mit seiner Frau zusammen war, hatte er sie noch kein einziges Mal betrogen. Jetzt aber wusste er nicht, wie er der unglaublichen Anziehung von Sabine widerstehen konnte. Im Laufe der Tage kamen sich die beiden immer näher. Bis zum vorletzten Abend hielt Markus tapfer durch, dann aber war es um seine Standhaftigkeit geschehen. Er verbrachte die ganze Nacht mit Sabine. Aber es war alles andere als eine rauschende Liebesnacht. Schon das gemeinsame Abendessen verlief schweigsamer als sonst. Als Markus kurz darauf Sabines Zimmer betrat, machte sich bei ihm ein mulmiges Gefühl im Bauch bemerkbar. Seine Finger und Zehen wurden eiskalt. Obwohl Sabine eine außergewöhnlich attraktive Frau war, fühlte er sich plötzlich nicht mehr zu ihr hingezogen. Stattdessen verspürte er Heimweh, nicht anders wie mit neun Jahren auf einem Schulskikurs.

Mechanisch entledigte er sich seiner Kleidung. In den Tagen davor konnte er es gar nicht erwarten, mit Sabine intim zu werden. Jetzt aber, wo es gleich so weit war, schien sie ihn nicht mehr zu interessieren. Mit einem Mal fühlte er sich unendlich einsam. Hastig leerte Markus ein Glas Rotwein und goss sofort wieder nach. Der Wein verfehlte seine Wirkung nicht. Schon nach wenigen Minuten fühlte Markus, wie die Erregung zurückkam und sein Blut in Wallung geriet. Es folgten leidenschaftliche Umarmungen. Doch als sich ihre nackten Körper endlich rhythmisch aneinanderschmiegten und Markus in Sabine eindringen wollte, passierte für ihn etwas Unvorstellbares.

Von einem Augenblick auf den anderen erschlaffte seine prall gespannte Männlichkeit wie ein Luftballon, dem man die Luft ausgelassen hatte. So sehr sich Sabine auch bemühte, sein Ding wieder hochzubekommen, es ging nicht. Ein weiterer Versuch nach einigen Stunden scheiterte genauso wie der am darauffolgenden Morgen. Sobald Markus sich mit Sabine vereinigen wollte, schwand seine Erektion.

Es bedarf keiner psychologischen Meisterleistung, um den Konflikt zu erkennen, der durch Markus’ widersprüchliche Wünsche hervorgerufen wurde. Auf der einen Seite begehrte er Sabine leidenschaftlich, auf der anderen wollte er seiner Frau treu bleiben. Ohne es bewusst angestrebt zu haben, wurde er so zum Diener zweier Herrinnen. Die Hemmung seiner Sexualfunktion entspricht der Kompromissbildung, wie sie für neurotische Symptome typisch ist. Er hat sich auf das sexuelle Abenteuer mit Sabine eingelassen und seiner Frau die Treue gehalten. Niemand kann es Markus verdenken, dass er mit dieser Lösung nur wenig Freude hatte.

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Watzlawick

Watzlawick bewertete diesen Eintrag 23.06.2019 20:30:16

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