Für die meisten von uns hat sich in den letzten Jahren relativ wenig in unserem persönlichen Alltag geändert, da schließe ich Dinge wie Jobverlust, familiäre Angelegenheiten oder Ähnliches nun einfach mal aus. Unser Leben ist ein Akkordablauf, wir gehen arbeiten, treffen Menschen, verbringen Zeit mit unseren Freunden und Verwandten.

Nun hat nicht jeder in seiner beruflichen Tätigkeit Kontakt zu vielen Menschen und hat deswegen vielleicht eher Schwierigkeiten, sich in seiner Meinungsbildung und Entwicklung von Menschenkenntnis einen breiten Fächer persönlicher Erfahrungen zusammenzubasteln. Hier versuche ich anzusetzen, da ich aufgrund meines Berufes (Ich bin Kundenbetreuer im Nahverkehr, früher nannte man das Schaffner, bei der Deutschen Bahn.) jeden Arbeitstag mit vielen hunderten, manchmal tausenden Menschen in Berührung komme. Da ist alles dabei, vom einfachen Kontrollieren der Fahrkarte über das Beantworten von Fragen und das Erteilen von Auskünften bis hin zur Rettung von Beziehungen und Personen, die aus irgendwelchen unerklärlichen Gründen das Bedürfnis haben, mir ihre Lebensgeschichte zu erzählen, was einen desöfteren schon etwas mitnimmt. Auch größere Kaliber wie Edmund Stoiber, der Chef der deutschen Polizeigewerkschaft Rainer Wendt oder der Orientalist und Islamwissenschaftler Hartmut Bobzin waren bereits meine Gäste.

Spätestens im August des Jahres 2015 hat sich schlagartig einiges geändert, denn mein Arbeitsort, das wunderschöne Passau, wurde plötzlich zum "bayerischen Lampedusa". Als die berüchtigte Grenzöffnung kam, wurden wir von der Bundespolizei darüber informiert, dass der Bahnhof Passau nun in Teilen zum Auffanglager umfunktioniert und die Präsenz von Vollzugsbeamten stark zunehmen wird. Zugegeben, bis dahin gehörte ich zu den Menschen, die ohne groß nachzudenken den oben beschriebenen Alltag abarbeiten. Bis dahin waren Stimmen, die vor aggressiven, frauenhassenden und religiös fundamentalistischen "Invasoren" warnten, nicht zu mir durchgedrungen.

Der Anteil von Migranten in Niederbayern ist gefühlterweise verhältnismäßig niedrig, verglichen mit den grauen Betonweiten von Nordrhein-Westfalen, welches stückweise meine alte Heimat darstellt. Desweiteren fallen die, die da sind, kaum auf. Natürlich hat man hin und wieder im Zug die Gespräche älterer Herren mitbekommen, die sich über "pöbelnde Kohlebriketts und kriminelle Muselmänner" echauffierten, doch um ehrlich zu sein habe ich dies stets belächelt und ignoriert. Man möge mir nun links-grün-versiffte Gutmenschlichkeit und realitätsferne Naivität unterstellen, doch ich habe, die breite Masse betrachtet, nach Jahren der Arbeit mit allen Bevölkerungsschichten, die hier in Bayern präsent sind, keine signifikanten Unterschiede im Verhalten von Deutschen und Migranten feststellen können. Beide stellen die volle Breitseite an verschiedenen Persönlichkeiten.

Ich möchte an dieser Stelle eine Frage stellen: nach welchen Kriterien bewerten wir Menschen, und vor allem, deren Verhalten?

In Jahren der Arbeit bei der Bahn und mit deren Kunden könnte man Bücher über außergewöhnliche Begegnungen schreiben, das möchte ich euch zumindest in diesem Blog ersparen. Die ein oder andere Anekdote kann jedoch vielleicht nicht schaden. Letztes Jahr, als ein älterer Herr aus Regensburg eine halbvolle Bierflasche nach mir schleuderte und mir einen grausamen Tod wünschte, weil ich ihn darauf aufmerksam machte, dass seine Zeitkarte seit 4 Tagen abgelaufen war, fragte ich mich selbstverständlich, was einen Menschen zu so einem Maß an spontanem Eskalationspotenzial treibt. Hatte er Ärger mit seiner Frau? Hatte er schlecht geschlafen? Ich weiß es nicht, aber es würde die Grundsituation auch nicht ändern.

Wie kommt es, das eine Gruppe alkoholisierter Fußballfans glaubt, das Recht zu haben, einer jungen Frau die Bluse vom Leib zu reißen und sie zum betatschen herumzureichen, als wäre sie eine Gummipuppe?

Immer wieder kommt es vor, dass sich Menschen benehmen, als wären sie Gorillas auf Crack. Da kann ich behaupten, dass ich einiges Gesehen habe: Deutsche Gorillas, spanische, afghanische, rumänische, türkische und US-amerikanische Gorillas. Immer war ich davon überzeugt, das müsse daran liegen, dass ich es hier faktisch mit Idioten zu tun habe, die nicht mehr alle Latten am Zaun haben.

Nun versuche ich, zum oben angeschnittenen Thema anzuschließen:

Die Zahl der Migranten, die unser lokales Verkehrsangebot nutzen, ist seit Mitte letzen Jahres rapide gestiegen, schon allein, weil die Neuankömmlinge relativ schnell den täglichen Gang von den Großunterkünften zum Deutschunterricht in Passau wahrnahmen, daran hat sich bis heute nichts geändert. Nüchtern und sachlich betrachtet ist alltagstechnisch eigentlich alles andere gleichgeblieben, doch die Emotionalität der Menschen hat sich verändert. Täglich habe ich das Gefühl, ein unsichtbarer Dunst aus Angst, Unsicherheit und Missgunst hängt in der Luft, obwohl trotz tausender Flüchtlinge, die vor allem in der Hochsaison letztes Jahr mit uns von Passau nach München gefahren sind, nicht ein einziger Fall einer Gewalttat, einer sexuellen Belästigung, eines Raubs oder Ähnlichem bekannt wurde. Die Behauptung, Flüchtlinge würden grundsätzlich keine Fahrkarte benötigen, ist übrigens zu dementieren. Nur höchst selten treffe ich welche, die kein oder ein ungültiges Ticket besitzen, und auch diese schreibe ich auf, wie jeden anderen.

Dennoch ist diese merkwürdige, oben beschriebene Atmosphäre präsent. Zunehmend scheint das Misstrauen, die Missgunst und auch teilweise der Hass gegenüber den Fremden zu wachsen. Ein junger Mann, der mit Kopfhörern im Ohr auf seinem Sitzplatz verharrt und aus dem Fenster schaut, wird von ein paar Damen mittleren Alters beobachtet, jeder einzelne Handgriff, den er vollführt.

"Ingrid, kuck mal, wie der schon schaut, da wird mir Angst und bange!"

"Ja, Annegret, du hast Recht, wie so ein Massenmörder!"

Kurzum entscheidet sich die Gruppe, sich so weit wie möglich von dem Mann wegzusetzen, der, wie er mir später erzählte, in Palästina wurzelte, in Deutschland geboren war und an der Universität Passau studierte. An dieser Stelle füge ich hinzu: Ja, der Mann sah zunächst tatsächlich nicht sonderlich gut gelaunt aus, was jedoch für mich nicht auffällig war, denn teilweise haben 80% der Fahrgäste einen Gesichtsausdruck, als hätten sie verdorbenen Fisch gegessen. Bis dahin kannte ich sie kaum, diese Angst gegenüber dem dunklen, braunäugigen Mann mit den schwarzen, üppigen Augenbrauen aus dem Morgenland. Irgendwann begann ich, mich im Internet auf den verschiedensten Plattformen umzusehen, um mich auf den neuesten Stand zu bringen, was da draußen so passiert, von dem ich nichts mitbekomme. Spätestens bei der Ankunft auf der "PEGIDA"-Facebookseite oder dem Auftritt des Portals "PI-News" kam ich ins Grübeln.

"Diese Eindringlinge hassen uns, wir sind in deren Augen nur Schweinefresser und Ungläubige!" wird von Kommentatoren skandiert.

Dass es solche Hohlbirnen gibt, die religiös begründeteten Hass in sich tragen, ist mir bekannt, auch solche musste ich schon kennenlernen. Aber was ist mit meinem Kumpel, dem Lokführer, der aus Tunesien stammt, 5 mal täglich betet und sich selbst als überzeugten Muslim bezeichnet? Mit ihm gehe ich doch oft in der Pause Kaffee oder Tee trinken, nicht selten lädt er mich ein. Allgemein herrscht zwischen uns ein menschlich tadelloses und respektvolles Verhältnis. Auch hierauf haben die Wahrheitspächter eine klare Antwort: "Wenn ein Muslim dich nett behandelt, macht er Taqiyya! Er will dich täuschen, um seine Eroberungs- und Unterdrückungsabsicht zu verschleiern." Es fällt mir schwer, das zu Ende zu denken, denn meine muslimischen Kollegen, mit denen ich allesamt unglaublich gern zusammenarbeite, machen so garnicht den Eindruck, als würden sie irgendetwas erobern wollten. Mit ihnen kann ich auch über verschiedenste kritische Gespräche führen, ohne den Kopf zu verlieren. Doch jetzt soll ich es einfach so hinnehmen, dass sie nur fiese Täuscher sind? Und wenn ich es nicht tue, bin ich ein Realitätsverweigerer?

Trotz allem scheinen diese Hintergrundgedanken starken Einfluss zu nehmen auf den zwischenmenschlichen Umgang. Wenn ich im Zug nun auf einen Iraker treffe, der mich mit ernster Mine ansieht, sollte dann mein erster Gedanke sein: "Der ist Muslim, der hasst mich, weil ich Schweinefleisch esse und ungläubig bin!"? Wozu führt das, kollektives, maximales Misstrauen? Klar, ein gewisses Maß an Misstrauen ist natürlich und schadet nie, man sollte wohl niemandem, den man nicht kennt, sein ganzes Vertrauen auf einem Silbertablett überreichen. Während diese Gedanken durch meinen Kopf streifen, habe ich garnicht wahrgenommen, dass mir der Iraker eine Fahrplanauskunft zeigte und in gebrochenem Englisch fragte, wo er umsteigen muss. Ich gab ihm die Auskunft, er begann zu lächeln und bedankte sich vielfach. Als er ausstieg reichte er mir die Hand, bedankte sich abermals und bot mir einen Schokokeks an. Soll hier mein erster Gedanke sein: "Der macht Taqiyya!"? Nein, mein erster Gedanke ist: "Schön, wieder eine nette, nicht ganz selbstverständliche Begegnung an einem langweiligen Tag." Nicht selbstverständlich, weil sich der Großteil der Kunden, insbesondere der gestressten Berufspendler für überhaupt nichts mehr bedanken, meistens grüßen sie nicht einmal. Da waren die Gesten, die ich von Flüchtlingen erlebt habe, oft eine willkommene Erfahrung. Die meisten grüßen, manchmal legen sie die Hand auf´s Herz und bedanken sich so oft, dass es peinlich ist.

Auf der anderen Seite trifft man die besagten Hornochsen, die offenbar kein Interesse an einem harmonischen Zusammenleben haben. Damit meine ich sowohl Migranten, die keinen Respekt vor Mitmenschen zeigen, ob religiös begründet oder sonst wie, als auch jene, die in jedem, der anders aussieht eine Gefahr erkennen WOLLEN. Unser Leben und unsere Gesellschaft werden sich verändern, in welche Richtung, das können wir selbst bestimmen, egal wo unsere Wurzeln liegen.

Mein Ansatz: Lasst uns die Welt aufteilen in jene, die friedlich miteinander koexistieren wollen und jene, die es sich zum Ziel gesetzt haben, diesen Frieden zu zerstören.

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