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Der Industrie-Riese Motor Sitsch aus Saporoschje ist der größte Hersteller von Flugzeugtriebwerken und Industriegasturbinen in der Ukraine und liefert seine Produkte in mehr als 100 Länder. Das ehemalige Flaggschiff der sowjetischen Industrie war auch nach dem Zerfall der UdSSR in zahlreiche Lieferketten mit russischen Partnern involviert. Noch im Jahre 2010 entfielen 30 Prozent des Exportvolumens des ukrainischen Turbinenherstellers auf den russischen Markt. Dies änderte sich im Jahr 2014 schlagartig, nachdem die Maidan-Regierung jegliche militärisch-technische Zusammenarbeit mit Russland verboten hatte.
Den Wegfall des russischen Marktes versuchte die Ukraine durch verstärkte Hinwendung zu chinesischen Investoren zu kompensieren. Im Jahr 2016 hatten Investoren des Skyrizon Aircraft Holdings begonnen, sich in die öffentliche Aktiengesellschaft Motor Sitsch einzukaufen. Im Jahr 2017 wurde im chinesischen Chongqing mit dem Bau eines Werkes für Flugzeugmotorenfertigung begonnen, an dem Motor Sitsch und das chinesische Unternehmen Tianjiao beteiligt sind.
Laut einer Quelle aus der ukrainischen Regierung sind derzeit etwa 75 Prozent der Aktien von Motor Sitsch de facto im Besitz der chinesischen Eigentümer, und ein Teil des Anteils dient als Sicherheit für die Finanzierung, die unter anderem von der China Development Bank bereitgestellt wird. Die chinesische Beteiligung war wegen unklarer Rechtslage und des US-Drucks jedoch noch nicht formalisiert.
Von Anfang an haben die USA der Ukraine signalisiert, dass eine chinesische Beteiligung an dem Unternehmen US-amerikanische Interessen stark gefährden würde. Dies nicht nur, weil chinesische Investitionen in kritische Infrastruktur häufig mit hohem chinesischem Fremdkapitalanteil einhergehen und die Geldgeber sich weitreichende Pfandverwertungsrechte ausbedingen. Die USA sehen auch die Gefahr, dass China Zugang zu Militärtechnologie im Bereich der Flugzeugtechnik erhalten könnte. Nun wollen die Amerikaner den chinesischen Beteiligungsambitionen endgültig den Garaus machen und greifen dafür zu dem bewährten Mittel der Sanktionen.
So setzte das US-Finanzministerium im Januar 2021 den Investor Skyrizon Aircraft Holdings auf seine Sanktionsliste. Das bedeutete, dass die US-Sanktionen auch direkt gegen Motor Sitsch verhängt werden könnten, was zu einer direkten Bedrohung aller bestehenden und zukünftigen Programme sowohl im Inland als auch mit ausländischen Partnern führen könnte. Für Motor Sitsch selbst und die Investoren des Unternehmens könnte es zudem auf dem internationalen Markt zu Problemen mit US-amerikanischen Handelsinstitutionen und Zahlungssystemen kommen.
Wie hat die Ukraine auf diese Entscheidung reagiert? Am 29. Januar 2021, fast unmittelbar nach Verkündung der US-Maßnahmen, unterzeichnete der ukrainische Präsident Wladimir Selenski die Sanktionen gegen Milliardär Wang Jing, weitere chinesische Bürger und den Hauptaktionär und Eigentümer von Skyrizon, die Beijing Xinwei Technology Group.
Selenksi sagte, dass er weder China noch einem anderen Staat erlauben würde, eine Mehrheitsbeteiligung an Motor Sitsch zu erwerben. Die Sanktionen umfassen auch die Sperrung von Vermögenswerten und die Einschränkung von Handelsgeschäften.
„Niemals. Nicht unter mir. Und sicher nicht unter meiner Präsidentschaft“, antwortete der Präsident in einem Interview mit einem US-Fernsehsender auf die Frage nach der Möglichkeit einer positiven Entscheidung bezüglich der Investoren.
Am 1. Februar reagierte das chinesische Außenministerium auf die Verhängung von Sanktionen gegen die Motor-Sitsch-Interessenten und forderte, dass deren Rechte respektiert würden. Vor kurzem haben die Chinesen auch vor dem Obersten Gericht der Ukraine die Sanktionen und das Vorhaben angefochten, Motor Sitsch zu verstaatlichen.
„Aussagen von Vertretern der ukrainischen Behörden über Pläne zur Verstaatlichung von Motor Sitsch sind inakzeptabel und werden den chinesischen Investoren des Unternehmens helfen, ein internationales Schiedsverfahren gegen die Ukraine zu gewinnen und Schadensersatz zu bekommen“, erklärte Wang Jing, Eigentümer der chinesischen Skyrizon Aircraft Holdings.
Seine Aussage war eine Reaktion auf Medienberichte vom 4. März 2021, als bekannt wurde, dass die Werchowna Rada die Frage der Verstaatlichung von Motor Sitsch prüfen würde.
Nach Angaben der chinesischen Seite wurde die Privatisierung von Motor Sitsch bereits vor dem Jahr 2000 vollständig abgeschlossen, danach sei das Unternehmen zu einer öffentlichen Aktiengesellschaft (PJSC) mit Streubesitzanteilen umgewandelt worden. Im April 2015 habe es die Regierung von der Liste der strategischen Unternehmen in der Ukraine gestrichen.
Mittlerweile wurde Motor Sitsch unter dem Druck der USA wieder „strategisch“, weil der geopolitische Partner der Ukraine, die USA, sich dem Verkauf an Peking widersetzte. Die Vereinigten Staaten versuchen so zu verhindern, dass China in den Besitz von Dual-Use-Technologien des bekannten Technologieriesen kommt.
Eine Antwort auf die Frage, warum sich Selenski in Sachen Sitsch auf die Seite der USA und nicht der chinesischen Investoren stellte, findet sich in der Geschichte des Maidan, der sogenannten Revolution der Würde. Jener Putsch fand auch vor dem Hintergrund eines vielversprechenden Abkommens zwischen der Ukraine und China über globale Investitionen im Kontext des hohen Vertrauensniveaus in den zwischenstaatlichen Beziehungen statt. Eine Zusammenarbeit der beiden Länder auch im militärisch-industriellen Bereich war ein wesentlicher Ausdruck dieses Vertrauens.
Chinas Führung war an der Ukraine als Quelle von Know-how interessiert – gemäß der Überlegung, dass man mittels umsichtiger Investitionen und sparsamer Mittelverwendung relativ schnell Geld verdienen und die Industrie modernisieren könne.
Für Janukowytsch ging die Zusammenarbeit mit China nach hinten los – er wurde gestürzt. Die Causa Sitsch wird Selenski auch daran erinnern. Was hingegen überrascht, ist der Umstand, dass die Chinesen bereits begangene Fehler wiederholen und ein weiteres Mal die politischen Realitäten in der Ukraine offenbar falsch eingeschätzt haben.
Auch die ukrainische Regierung selbst zeigt sich in dieser Angelegenheit immer aktiver – auf der Seite der Amerikaner. In einem Video, das uns vorliegt, nennt Wladimir Leschtschenko, der Leiter der Exportkontrollabteilung der ukrainischen Regierung, Motor Sitsch ein „strategisches Unternehmen für das Land“ und verspricht, die „akzeptabelste“ Lösung auch für US-Partner zu finden.
Interessanterweise hat Motor Sitsch PJSC in den ersten drei Quartalen des Jahres 2020 – daraus stammen die letzten verfügbaren Daten – insgesamt 7,68 Milliarden ukrainischer Griwna (umgerechnet 232 Millionen Euro) an Einnahmen und 930 Millionen (28 Millionen Euro) an Nettogewinn verbucht, gegenüber 532 Millionen Verlust für den gleichen Zeitraum des Jahres 2019.
Die so rasch gestiegene Rentabilität von Motor Sitsch lässt aufhorchen - die Ukraine kennt seit Janukowytschs Zeiten eine Tradition feindlicher Übernahmen ihrer erfolgreichen Unternehmen. Auch die Verstaatlichung von Motor Sitsch schließt mittelfristig einen weiteren Wechsel des Eigentümers nicht aus.
Nach dem Ausstieg der Chinesen sehen Experten für Motor Sitsch allerdings langfristig keine gute Perspektive. Es sei wahrscheinlich, dass das Unternehmen das Schicksal der ehemaligen Giganten Juschmasch oder Antonow treffen könnte, die beide jetzt Nicht-Kernprodukte produzieren. Dies hat beide von profitablen Unternehmen zu Verlustbringern gemacht.
Fortschrittliche und wettbewerbsfähige ukrainischen Unternehmen sind auf dem Weltmarkt für niemanden wirklich von Nutzen, für Russland waren sie es in der Vergangenheit und für China wären sie es potenziell in der Zukunft. Nun aber muss Sitsch sich zunehmend auf die Herstellung von Straßenbahnen, Mikrobussen sowie von Bügeleisen und anderen Haushaltsgeräten einstellen. Und auf eine drastische Reduzierung des Personals.
Wolfgang Bernau
Bildhinweis: Motor Sich-Produktion (Bild aus dem Jahr 2009): Das Lotarjow D-18 ist ein Sowjetunion entwickeltes Dreiwellen-Turbofan-Triebwerk mit hohem Nebenstromverhältnis. Es gilt als eines der leistungsstärksten Triebwerke weltweit. Marina Lyszewa