Getreu seinem Wahlkampfmotto „Armee, Sprache, Glaube“ machte der ukrainische Ex-Präsident Petro Poroschenko am Ende seiner Amtszeit den Bürgern seines Landes ein letztes „Wahlkampfgeschenk“. Auf einem Konzil, an dem Bischofe zweier schismatischer und international nicht anerkannter ukrainischer Kirchen teilnahmen, gründete er zusammen mit den Hierarchen des Konstantinopeler Patriarchats eine neue Kirche – die Orthodoxe Kirche der Ukraine, kurz OKU. Wenige Wochen später, im Januar 2019, gewährte Bartholomäus, der Patriarch von Konstantinopel, dieser Kirchenstruktur die Autokephalie – den sogenannten Tomos. Dieser Schritt sollte Unabhängigkeit bedeuten – allerdings nur vom Moskauer Patriarchat, dessen Teil die kanonische Ukrainische Orthodoxe Kirche (UOK) ist. Das Dokument machte aber auch unmissverständlich klar, dass sich die neue „Kirche“ ab sofort in der Obhut des Konstantinopeler Patriarchats befinde. Auch viele wertvolle Kirchenimmobilien sollten zu dessen Gunsten abgetreten werden.
Massive politische Unterstützung bekam die Entscheidung nicht nur vom damaligen ukrainischen Präsidenten, sondern auch von den USA. Mehrere hochrangige US-Diplomaten, darunter auch Außenminister Mike Pompeo, besuchten sowohl vor als auch nach der Gründung der OKU Kiew und Fener – jenes historische Viertel im Istanbul, wo sich die Residenz des Konstantinopeler Patriarchen befindet. Sie begrüßten den Tomos als Akt der „religiösen Freiheit“ und feierten den damit verbundenen angeblichen Rückschlag für die konservative russische Orthodoxie. Die einflussreiche Russisch-Orthodoxe Kirche mit ihrer Kritik an ultraliberalen Trends ist Verfechtern der westlichen Hegemonie und des liberalen Globalismus seit langem ein Dorn im Auge.
Was danach folgte, ist bekannt: Die Weltorthodoxie erkannte den Alleingang von Bartholomäus mehrheitlich nicht an, in der Ukraine fand eine massive Kampagne mit gewaltsamen Übergriffen gegen Gläubige und Priester der UOK statt. Im April 2019 erlitt Petro Poroschenko bei den Präsidentenwahlen mit 25 Prozent der Stimmen eine Niederlage mit einem historisch niedrigen Ergebnis. Auch mit dieser Abstimmung zeigten die Bürger, dass sie die Gründung einer ethnisch-national ausgerichteten Kirche nicht unterstützten. Der neue Präsident Wladimir Selenski distanzierte sich vom Kirchenstreit, die Übergriffe auf die Kirchen, die massenhaften feindlichen Übernahmen und die Umregistrierungen der Pfarreien nahmen ab. Bei seinem Besuch auf dem Fener im August 2019 sagte Selenski: „Die Regierung soll sich in die kirchlichen Angelegenheiten nicht einmischen, ich werde die kirchliche Unabhängigkeit schützen.“
Wenig später haben die Vertreter dreier von Griechen geführter Kirchen – der Hellenischen Kirche und der Kirchen des Alexandrinischen und zuletzt auch des Zypriotischen Patriarchats – die OKU anerkannt. Dies geschah unter massivem Druck aus dem griechischen Außenministerium sowie aus Fener und den USA. Die Oberhäupter dieser Kirchen hatten zuvor immer wieder betont, dass sie die Position der kanonischen Ukrainischen Orthodoxen Kirche als einzig legitimer Kraft der ukrainischen Orthodoxie unterstützen und Schismatiker verurteilten.
Reuters US-Außenminister Mike Pompeo besucht den Konstantinopoler Patriarchen Bartholmäus in Istanbul am 17. Novemver 2020
Im Oktober 2020 traf sich Wladimir Selenski wieder mit Bartholomäus. Der Präsident, der früher sagte „Sucht mich nicht in der Kirche“ und sich dort nicht einmal zu Weihnachten oder Ostern blicken ließ, nahm auf dem Fener an einem Gottesdienst mit Bartholomäus teil. Auch der Vertreter Konstantinopels in der OKU war anwesend. Anschließend bedankte sich Selenski beim Konstantinopeler Patriarchen für alles, was dieser für sein Land getan habe und lud ihn mit den Worten in die Ukraine ein: „Ihre Unterstützung auf dem Weg zum Frieden ist sehr wichtig für uns.“ Wie passt dieses Lob aber zur Duldung der Gewalt sogenannter „Aktivisten“ und sonstiger Rechtsverletzungen gegenüber der Ukrainischen Orthodoxen Kirche, die Bartholomäus und die OKU ignorieren? Vor wenigen Wochen sagte Bartholomäus in einem Interview, dass er die Ukrainische Orthodoxe Kirche nur „dulde“ und deren Oberhaupt, den Seligen Metropoliten Onofrios, lediglich als einen „in Kiew lebenden Kirchenmann“ sehe. Es war offensichtlich, dass Selenski mit seiner Geste gegenüber Bartholomäus auf die Poroschenko-Linie eingeschwenkt war.
Diesem offenkundigen Annäherungsschritt folgte schon bald der nächste: Am 30. November besuchte eine große ukrainische Regierungsdelegation abermals Fener. Anlass dazu gab ein zweitrangiger Kirchenfeiertag, zu dem kein weiterer Gast aus der orthodoxen Welt beim Patriarchen erschien. Orthodox? Schon das war in Bezug auf die ukrainische Delegation fraglich. Ganz im Sinne einer Ökumene, die einer Fusion zwischen Katholischer und Orthodoxen Kirchen vorsieht, las der griechisch-katholische Premierminister der Ukraine, Denis Schmygal, während des Gottesdienstes auf dem Fener das „Glaubensbekenntnis“ vor. Vielsagend waren dabei die Worte des Premiers:
„Die Bereitstellung der Autokephalie durch den Tomos eröffnete neue Perspektiven für eine harmonischere Entwicklung des Christentums auf ukrainischen Ländereien.“
Kein Wort über die Orthodoxie, mit der sich – ob in kanonischer Form oder nicht – immerhin um die 80 Prozent der Gläubigen in der Ukraine identifizieren. Inzwischen bringt man in der Ukraine diese zwei Besuche beim „Ökumenischen“ Patriarchen mit einem ungewöhnlichen Besuch des Chefs des Präsidialamtes von Selenski, Andrej Ermak, in Rom in Verbindung. Am 6. Oktober sprach Ermak mit dem Staatssekretär des Heiligen Stuhls, Kardinal Pietro Parolin. Die Einzigartigkeit dieses Treffens äußerte sich darin, dass es eine geschlossene Gesellschaft war, dass nicht einmal Dolmetscher anwesend waren und weder das ukrainische Außenministerium noch die Botschaft der Ukraine in Italien oder der Heilige Stuhl an seiner Vorbereitung beteiligt waren. In einem Interview sagte Ermak später, dass bei dem Gespräch ein möglicher Besuch von Papst Franziskus in der Ukraine das Thema war. Die Einladung dazu wurde Papst Franziskus offiziell und persönlich am 8. Februar 2020 bei seinem Besuch in Vatikan von Selenski ausgesprochen.
Wenn die beiden Gesandten über die gleiche Sache gesprochen haben, dann kann man sich mit ein bisschen Fantasie gut vorstellen, dass, wenn es der ukrainischen Diplomatie tatsächlich gelingen würde, die beiden Kirchenoberhäupter in der Ukraine zusammenzubringen – idealerweise an einem ukrainischen Feiertag wie dem Tag der Unabhängigkeit –, es für diese ein bahnbrechender Erfolg wäre. Auch für die Führer des Fener und des Vatikans wäre dieses Treffen in der Ukraine ein willkommener Anlass, den nächsten Schritt in Richtung ihrer Vereinigung zu setzen. Dass sie der Idee einer Kirchenfusion offen gegenüberstehen, haben sie bereits früher des Öfteren erklärt. Derlei Begegnungen in einem Drittland hatte es in der jüngsten Vergangenheit auch schon gegeben – in Erinnerung bleibt das Treffen in der kubanischen Hauptstadt Havanna zwischen dem Patriarchen der Russisch-Orthodoxen Kirche Kyrill und Papst Franziskus im Februar 2016.
Ein Zusammentreffen dieser Art in der Ukraine wird bis auf Weiteres wahrscheinlich ein Wunschtraum bleiben. Dennoch ist die Wende in der Kirchenpolitik Selenskis offensichtlich. Er brach sein Versprechen der Neutralität und bemüht sich zunehmend um die Belange der ukrainischen Schismatiker aus der OKU. Dafür sprechen auch die wiederaufgenommene Finanzierung dieser Kirche durch den Staat und der Einzug bekennender OKU-Unterstützer ins Präsidialamt. Die Fortsetzung dieser Politik wird für die Weltorthodoxie weiterhin gravierende Folgen haben und die Spaltung zwischen jenen Landeskirchen, die die OKU nicht anerkennen und jenen, die der Linie Konstantinopels folgen, noch vergrößern. Schon zum jetzigen Zeitpunkt sind die spirituellen Beziehungen zwischen den griechischen Kirchen, zu deren Besitz solche Pilgerorte wie Heilige Berg Athos gehören, und der Russisch- und Ukrainisch-Orthodoxen Kirche abgebrochen.
Warum aber folgt Selenski dieser Politik, die sich schon zu Zeiten Poroschenkos als falsch erwiesen hatte? Innenpolitisch kann er keine Erfolge vorweisen. Seine Partei, die im letzten Jahr als Mehrheitspartei in die Werchowna Rada, das ukrainische Parlament, eingezogen war, zerbröselt. Die Bevölkerung leidet unter extrem hohen Lebenshaltungskosten, die ohnehin notorisch kriselnde Wirtschaft erleidet infolge der Corona-Krise einen weiteren dramatischen Einbruch. Das treibt den Präsidenten dazu, zu Mitteln der politischen PR zu greifen und sich um starke, eindrucksvolle Bilder zu bemühen. Diese Bilder könnte die Kirchenthematik liefern. Außerdem will er sich stärker in das US-amerikanische religiöse Projekt in der Ukraine einfügen. Dieses ist klar gegen den Einfluss der Russisch-Orthodoxen Kirche in der Ukraine gerichtet. Damit kann er sich auch schon für den künftigen neuen US-Präsidenten nützlich machen. Denn Joe Biden als Ex-„Kurator“ der Ukraine – diese Funktion hatte er während seiner Zeit als Vize-Präsident zu Zeiten Obamas ausgeführt – hat zwar enge Kontakte zur ukrainischen Führung der ersten Jahre nach dem Staatstreich im Jahr 2014, aber nicht zu Selenski.