Dieses Weihnachtsfest ist mein sechsundsiebzigstes. Seit ich mich erinnern kann, seit frühester Kindheit, bis zum heutigen Tag, habe ich Weihnachten jedes Jahr, ohne Ausnahme, mit "meinen Lieben", meinen jeweils "Nächsten" unterm Weihnachtsbaum gefeiert. Wir haben uns gegenseitig beschenkt, uns auf das Gemeinsame besonnen und Briefe ausgetauscht mit denen, die nicht bei uns sein konnten. In meinem christlich geprägten Elternhaus stand dabei selbstverständlich die Geburt Christi als Motiv obenan. Unausgesprochen, aber tatsächlich noch bedeutender als dieses "was" war freilich immer, WER da feiert: nicht irgendeine Zufallsgemeinschaft, kein Verein, keine Gesellschaft - sondern diejenigen Menschen, die uns ganz persönlich am nächsten stehen: "wir". Weihnachten ist das Fest des "Wir".

Das hieß keineswegs, dass wir uns dabei nach außen abgeschottet hätten. Meine sehr katholische Mutter sorgte dafür, dass immer mal wieder "fremde" Menschen über Weihnachten bei uns zu Gast waren und mit uns feierten; ein spanischer Geistlicher aus Sevilla, eine junge, venezolanische Klosterschwester, die in Deutschland Theologie studierte, ein rabenschwarzer Kaplan aus Uganda... Sie alle waren liebe, willkommene Gäste - aber sie waren eben nicht "wir", sondern zu Gast. Meine Mutter gab ihnen so Gelegenheit, auch bei uns ein Stück weit zu ihrem eigenen "wir" zu finden.

Das Fest des "Wir" zu feiern war nicht immer leicht. Friede, Freude, Eierkuchen kommen nicht von selbst, bloß weil man ein paar Kerzen anzündet und fromme Lieder singt. Gerade mit den Menschen, die uns am nächsten stehen, haben wir immer auch Konflikte; und die brechen bevorzugt gerade dann auf, wenn man bei so einem "Familienfest" eng beieinander hockt. Oft genug wurde da das inzwischen schon fast vergessene, christliche Weihnachtsmotiv zum Notanker, um uns dann doch wieder zusammenzusetzen und gemeinsam die anstehenden Konflikte zu bewältigen, anstatt uns im Wortsinn bloß noch auseinander zu setzen.

Am schlimmsten waren aber nicht solche Weihnachtsfeste des Unfriedens und Konflikts, sondern die der Einsamkeit: zu Zeiten, in denen ich mich fragen musste, wer denn "wir" eigentlich ist, ob es das überhaupt noch gibt... Letztlich hatte ich dann doch das große Glück, wirklich jedes Weihnachtsfest meines langen Lebens mit einem aktuellen "Wir" feiern zu können; aber ein paar bittere Male musste ich dazu dieses "Wir" erst neu definieren.

Die diesjährige Weihnachtsansprache unseres Bundespräsidenten verursachte mir spontanen Brechreiz: "Lassen wir uns nicht auseinandertreiben", "Stehen wir zusammen". Angesichts brutaler Angriffe und zunehmenden Unfriedens überall um uns herum sind solche Aufrufe ja durchaus richtig - nur: WEN, bitte, meint Herr Steinmeier da mit "wir"? Meint er damit wirklich ALLE Deutschen, für die er als Bundespräsident doch sprechen sollte - auch die hinter der "Brandmauer"? Will Steinmeier also wirklich auch mit Deutschen wie Chrupalla, Weidel und Höcke - samt deren mittlerweile Millionen Wählern - "zusammenstehen"? Im Kontext seiner sonstigen Reden im Amt kann ich ihm das beim besten Willen nicht mehr abnehmen. Wer aber als Bundespräsident den politischen Gegner aus den Adressaten dieses "wir" ausschließt, bei dem ist ein solcher, weihnachtlicher Aufruf zum Zusammenstehen bestenfalls eine heuchlerische Phrase - und schlimmstenfalls ein Fanal zum Bürgerkrieg: nämlich dann, wenn er als Aufruf zum Zusammenstehen GEGEN angebliche Feinde dieses exklusiven "wir" verstanden wird.

Wenn ein Bundespräsident eine Weihnachtsrede hält, wird Weihnachten zwangsläufig politisch. Das muss nicht per se schlecht sein: Weihnachten ist ja traditionell auch Gelegenheit und Aufruf dazu, Frieden zu schließen und das Gemeinsame zu pflegen, und zwar auf ALLEN Ebenen. Gerade auf der politischen Ebene scheint das momentan nötiger denn je! Voraussetzung dafür ist freilich, dass wir uns erst mal klarmachen, wer "wir" überhaupt sind. In der Politik fällt das u. a. mit der Frage unserer Identität als Deutsche zusammen; und es fällt buchstäblich in sich zusammen, wenn diese Identität schon als solche systematisch negiert wird. Wer soll denn, bitte, laut Prädident Steinmeier zusammenstehen, wenn es ein diesbezügliches "wir" gar nicht mehr gibt?

Frieden schließen heißt nichts anderes, als in irgendeiner Form ein neues "wir" zu schaffen - oder zumindest ein vorher abgelehntes "wir" erneut zu akzeptieren. Weihnachten als das Fest des "Wir" stellt deshalb an jeden von uns - und auf jeder Ebene wieder von Neuem - die heikle und manchmal sehr schmerzhafte Frage:

Wer ist "wir"?

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