Kollektive Verunsicherung und fehlende Romantik

Vieles, das bisher als sicher galt, wird infrage gestellt. Man erlebt persönlich und medial permanent

Revolutionen, die durch technische und politische Revolutionen auch zu einer psychologischen

Revolution angewachsen sind. Eine überzeugende Romantik, die es früher gab, damit Menschen

wieder Mut fassen konnten um in etwas neu zu investieren und Ruhe zu finden, gibt es seltener,

obwohl heute die Zeit zum frei entwickeln viel eher möglich ist als sie jemals war. Beispielsweise ist

ein gelungenes Leben nicht von einer Mutterschaft abhängig. Sinn zu finden muss man sich

erarbeiten, geht nur, wenn man sich mit sich selbst auseinander setzt. Das zu können ist ein Luxus,

den man zu selten schätzt. Über was definiere ich mich? Das Problem ist, dass der Selbstdefinition zu

wenig Raum gegeben wird, dafür erhalten Existenzängste und Urteile von Laien viel Raum und

Gewicht. Die Soziologen des Tages machen vor allem die „kleinen Brüder“ der Soziologen, die

Journalisten. Hier gilt es als Bürgerpflicht, das Quellenstudium ernst zu nehmen, da es mittlerweile

fast nur mehr Journalisten zu geben scheint, schließlich quatscht jeder mit jedem online und aus

Gerüchten werden Fakten – Hauptsache wir haben eine Meinung.

Mehr Notstandsregierungen, statt Problemlöser

Wir sind ob der vielen Einsagern bis zu einem gewissen Maß beratungsresistent geworden.

Schließlich haben wir alle unsere Methoden, um unangenehmen Wahrheiten solange aus dem Weg

zu gehen, bis wir mit der Nase darauf gestoßen werden. Das ist bei der Gesundheit einer

Privatperson nichts Anderes als beim Staat und seinen Finanzen.

Wenn man aber nur mehr in der Problemlösungshektik agiert, wird man selbst zum Problem, so auch

Regierungen, die heute viel öfter nur mehr Notstandsregierungen sind, die hinter Problemen her

regieren. Hauptsache der Status Quo wird gehalten. Es herrscht eine permanente Improvisation, frei

nach Karl Marx; alles Ständige und Stehende verdampft.

Wer sind die Treiber für derlei Entwicklungen? Eine ist sicher die Kommunikationstechnlogie. Früher

fand der Großteil der Kommunikation im Tete a Tete statt. Auf einmal war es anders. Auch die

Erfindung der Schrift war eine Katastrophe für diejenigen, die nicht lesen konnten. Dieses Problem

haben wir vor 200 Jahren beseitigen können. Doch das Zeitalter der Sekurität läuft - hervorgerufen

durch die neuen Kommunikationsmöglichkeiten - aus. Permanente Improvisation und Revolution

häufen sich.

Ebenso gestaltete sich die Entwicklung des Automobils. Vor 100 Jahren gab es dieses nicht.

Mittlerweile wurde es eingemeindet. Kaum jemand möchte darauf verzichten. Es wurde integriert

und sogar zu einer Schlüsseltechnologie, da es ohne Automobil kaum Leben außerhalb von Städten

gäbe. Der Fortschritt schaffte es auch, dass man wegen banaler Krankheiten nicht mehr stirbt – die

Gesundheitsversorgung ist fast allumfassend. In der Kommunikationstechnologie leben wir bereits in

einer Art Synchronwelt – jeder kann heute mit jedem andern zur gleichen Zeit kommunizieren.

Problematisch könnten die Jahrgänge ab 1990 werden. Sie kannten eine Offline-Welt nicht. Wie

werden diese Neulinge die Zeit entwickeln? Stichwort China und ihre Vermessung der Menschen via

der Social Media Welt um Konformität zu sichern.

Fehlt Solidarität?

Dies wird oftmals mit eindrucksvollen Videos dokumentiert, bei denen fehlende Hilfestellungen

anderer Menschen aufgezeigt werden. Auch bestimmte Familienstrukturen lassen sich nicht mehr so

oft wiederholen, wie früher. Doch die Freundschaftskultur steigt unter jungen Leuten stark an –

Solidarität entsteht bei jungen Menschen somit anders und definiert sich vielleicht auch seltener

über Familie. Was wären viele Jugendliche ohne ihr Handy, was wären wir im Generellen ohne unser

Adressbuch? Da ist ein Teil unseres besseren Selbst drin. In unseren Adressbüchern bauen wir täglich

weiter an einem neuen informellen ethnischen Gefüge, dem wir uns solidarisch zeigen.

Dadurch steigen die Verwandtschaftsebenen stark an, aber eben nicht nur die genetischen, sondern

die freundschaftlichen, mit denen man sich „verbunden“ fühlt. Dabei sinkt eher die familiäre.

Mehr Funktionseliten

Auch bei Eliten, die früher sehr wichtig waren bei strukturellen Entscheidungen, änderte sich einiges.

Funktional entwickelt sich die Gesellschaft jedenfalls auseinander. Es gibt sehr viele Funktionseliten,

früher gab es mehr Statuseliten. Vor 300 Jahren wurde durch die Beamteneliten der Rang der

Blaublütler abgelöst, dann kamen im 19.Jahrhundert plötzlich Künstler auf. Heute sind es vor allem

Fussballspieler, Berater, oder Journalisten. Die „neue Gesellschaft“ hat die Anzahl der

Spitzenpositionen erhöht. Mehr Menschen können „reich“ (monetär, Statusbezogen, oder durch

breite Bekanntheit) werden. Dadurch entstand eine Art informelle Aristokratie.

Politik sollte manchmal auch von Wirtschaft lernen

Was macht die Politik? Meines Erachtens zu wenig mit der Weitwinckelperspektive arbeiten. Aber

wie auch vorhin erwähnt, das Problem ist menschlich. Eine Regierung kann sich darauf aber nicht

ausreden, schließlich ist sie nicht nur für sich selbst zuständig, sondern dem Gemeinwohl

verpflichtet.

Bildungsthemen versanden in Modelldebatten, gleich welcher Typus Lehrer im Klassenzimmer steht.

Pensionsdebatten werden aus Furcht vor der Strafe des 50 Plus-Wählers nicht angegangen und jede

noch so kleine Änderung in Föderalismus und Verwaltungsvereinfachung wird nicht mit nationalem

Schulterschluss angegangen, sondern mit scheinbar ideologischem Gequatsche abgedreht. Sollte es

dieser Regierung gelingen, große Würfe zu vollbringen wäre es gut. Bisher war dies noch nicht so

sehr der Fall. Die Politik könnte dabei von der Wirtschaft lernen. Die macht sich ihre Branche nicht

ständig selbst kaputt. Der Hersteller der Smartphone Marke x würde nie behaupten, dass man

Ohrenkrebs bekommt, wenn man mit den Mobiles der Konkurrenzfirma telefoniert. Denn

irgendwann schlägt das Pendel wahrscheinlich zurück und die Konsumenten hinterfragen auch die

andere Firma, die defakto ähnlich sein müsste. Aber in der Politik wird jeder Reformvorschlag, sei er auch

noch so nahe dem eigenen Programm, an den Pranger gestellt um dem anderen nur ja keinen Erfolg,

zum Wohl der Branche und schlussendlich der Bevölkerung, zu gönnen.

Jedenfalls nimmt man diese Regierung mehr als Regierung wahr als die vorige (was aber auch kein Kunststück

ist). Jedoch, Antworten/Handlungsstränge auf Verunsicherungen dieser Zeit muss die Koalition erst

noch liefern, damit wieder eine überzeugende Romantik entstehen kann.

Wolfgang Glass ist promovierter Politologe und Personalberater in Wien.

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