Das österreichische Bundesland Steiermark hat am Sonntag gewählt. Weil ich in der Landeshauptstadt Graz aufgewachsen bin, habe ich mich hinreißen lassen, ein paar Buchstaben zum Thema sinn- und kunstvoll zu kombinieren. Glauben Sie mir: Gerne mache ich das nicht. Wahlanalysen. Alleine das Wort Nein, über österreichische Innenpolitik zu schreiben ist meist eine totlangweilige Angelegenheit. Es ist sicher kein Zufall, dass der Begriff Urne nicht nur einen Behälter für Stimmzettel meint, sondern eben auch ein Gefäß zur Aufbewahrung von sterblichen Überresten. Wer mir nicht glaubt, dass Wahlanalysen ein freudloses Unterfangen sind, der werfe einen Blick auf die Politikseiten der einschlägigen Tageszeitungen und Magazine. Darum habe ich mir fest vorgenommen, die geneigte Leserschaft nicht mit den handelsüblichen Plattitüden zu betäuben. Wer etwas über Denkzettel, Erdrutsche, Weckrufe oder Bürger-Ängste, die es künftig ernst zu nehmen gelte, lesen will, den verweise ich auf den leitartikelnden Mitbewerb. In dieser Niederschrift geht es um etwas anderes. Und zwar um Scham.
Um alle Sach- und Ortsunkundigen bei der Stange zu halten, muss ich kurz ausholen: Viele Wähler in der Steiermark haben eine Partei gewählt, die mit dem Begriff „rechtsextrem“ noch höflich umschrieben ist. Den Namen der Partei erspare ich der Leserschaft. Man kennt ihn. Auch will ich mir nicht unnötig die Fingerkuppen schmutzig machen. Fest steht: Knapp ein Drittel der Wähler hat diese Gruppierung gewählt. Das ist erstmals weder außergewöhnlich noch neu. Grob geschätzte 33 Prozent der Bevölkerung sind in Österreich für rechtsextreme Botschaften sehr empfänglich. Dabei gilt: Je größer die Bildungsferne, desto kleiner die Hemmschwelle, rechtsextrem zu wählen. Sonderlich überraschend ist das alles nicht. Auch das Ergebnis nicht. Ähnliche Resultate gab es in den vergangenen 25 Jahren schon mehrmals. Darum hielt ich, als ich die erste Hochrechnung las, nur kurz innen, murmelte stumm etwas von „Business as usual auf der Insel der Armseligen“ und wandte mich wieder meinen undurchsichtigen Verrichtungen zu.
Rund eine Stunde später warf ich einen kurzen Blick auf Twitter und Facebook. Immerhin will man ja wissen, was in der Welt so abgeht. Und siehe da, im österreichischen Teil der Welt war der Teufel los. Tiefe Bestürzung durchfurchte die sozialen Medien. Mehr noch: Apokalyptischer Kulturpessimismus schwappte mir aus diversen Bildschirmen und Displays entgegen. Und mittendrin immer wieder ein Satz. Ein Satz, der sich in leicht abgeänderter Form gleich einer mystischen Beschwörungsformel immer und immer wieder wiederholte: Ich schäme mich.
Ich schäme mich, Steirer zu sein. Ich schäme mich für die Steiermark. Ich schäme mich, ich schäme mich, ich schäme mich.
Scham also wohin ich blickte. Merkwürdig, dachte ich. Immerhin bin ich auch gebürtiger Steirer. Doch das inkriminierte Wahlergebnis wollte mein Schamgefühl einfach nicht aus der Reserve locken Warum auch? Für ein Wahlergebnis schämen? Das wäre ja noch schöner. Der Grund für meine hohe Schamgrenze ist folgender: Schämen kann ich mich nur für etwas, das ich selbst verursacht habe. Und da ich in der selbsterwählten Diaspora lebe und darum in der alten Heimat nicht einmal wahlberechtig bin, hätte ich gar nicht in Verlegenheit kommen können, diese unsägliche Partei zu wählen. Denn nur diese hypothetische Torheit hätte mir einen ernsthaften Grund zum aufrichtigen Schämen geliefert.
Als Freund der bestechenden Logik entwickelte ich eine ziemlich originelle Theorie: Haben etwa alle diese Menschen, die sich nun so so lautstark schämen, ihre Stimme der unsägliche Partei gegeben? Womöglich sogar versehentlich? Schämen sie sich deshalb so aufdringlich? Weil ich den Menschen nichts unterstellen will, verwarf ich die Theorie wieder. Es ist wohl eher so: Die meisten Schämenden nutzten den verdrießlichen Anlass, um öffentlich zu demonstrieren, dass sie mit den Gebarungen der wahlwerbenden Niedertracht nicht einverstanden sind. Man bezieht Stellung gegen Rechts und rückt sich so – man verzeihe mir die Formulierung – ins rechte Licht. Das ist alles gut und schön. Aber auch ein bisschen unschön. Denn einen Schönheitsfehler gibt es: Wer dem Rechtsextremismus ernsthaft die Stirn bieten will, der setzt mit Scham das völlig falsche Zeichen. Denn Scham riecht nach Untätigkeit. Scham riecht nach Unterwürfigkeit. Scham riecht nach Wehrlosigkeit. Und Scham riecht nach religiös motivierter Wehleidigkeit. Scham riecht also ein bisschen nach Österreich. Insofern passt die Reaktion auch wieder zu diesem viel beklagten Wahlsonntag.