Mit Stanniolpapier gegen Löwen: Wie das Internet Leben retten kann

Seit es das Internet gibt, schwindet die Zahl der Zeitungsleser kontinuierlich. So weit, so bekannt. Der Verzicht auf das bedruckte Papier drückt aber auch auf den Horizont des Lesers. Das behaupten zumindest Experten. Die Argumentation der fortschrittsskeptischen Medientheoretiker geht so: Wer eine Zeitung durchblättert, bekommt eine Kessel Buntes serviert. So wird er mehr oder weniger unfreiwillig mit Themen konfrontiert, die nicht unbedingt seinen Kerninteressen entsprechen. Menschen, die sich aber ausschließlich via Internet via über den Weltenlauf informieren, neigen dazu, sich stets mit denselben Themen auseinanderzusetzen und den Rest auszublenden. Also: Freunde des Orgelbaus lesen nur mehr Blogeinträge über Orgelbau. Ornithologisch interessierte Bewunderer des Krähenvolks besuchen nur mehr Seiten, die sich mit der Aufzucht und Hege des intelligenten Rabenvogels beschäftigen. Und Zeitgenossinnen, die den unterschiedlichen Spielarten der Zehennagellackierung zugetan sind, verlieren sich auf Spezialforen, die sich den Freuden der Fußpflege widmen. Außenpolitik, Kunst und Kultur? Fehlanzeige. Die Diagnose ist niederschmetternd: Daten-Overkill trifft auf Spezialisierungs-Wut und verwandelt analoge Generalisten in digitale Autisten. Die Folge: Intellektuelle Verwahrlosung  und im schlimmsten Fall sogar eine erhöhte Anfälligkeit für politische Extremismen aller Art.

Da ich aber beim besten Willen keine Karriere als intellektuell verwahrloster politischer Extremist anstrebe, beschloss ich, dem Schicksal  die Stirn zu bieten. Zur Anschaffung eines Zeitungsabonnements konnte ich mich zwar trotzdem nicht durchringen, dafür begann ich, das Internet bewusst nach mir interessensfernen Seiten abzugrasen. Ich begann Nachrichten-Portale zu besuchen,  die sich mit naturwissenschaftlichen Entdeckungen auseinandersetzen. Ein weiser Entschluss, wie sich herausstellte. Denn schnell lernte ich die Freuden des völlig unnützen Wissens zu schätzen. Es gibt Online-Wissenschaftsredaktionen, wie etwa jene der österreichischen Tageszeitung „Der Standard“, die den geneigten Connaisseur des obskuren Zweit- und Drittwissens täglich mit Fachinformationen versorgen, die auf keine Kuhhaut gehen. Was aber nicht weiter schlimm ist, da die gemeine Kuhhaut im dritten Jahrtausend als Datenträger sowieso keine große Rolle mehr spielt.  Schon die Schlagzeilen sind oft so rätselhaft, dass man gar nicht weiterlesen will, aus Angst der Fließtext könnte die sphinx’schen Qualitäten der Headline entzaubern. Beispiel gefällig? „Ein Robot-Kalmar für die Monde der Gasplaneten“, „Unappetitliche Schokolade mit Elektronen-Synchrotron untersucht“, oder „Gesunde Fettsäuren: Chinesische Forscher züchten fischiges Fleisch“. Manchmal entwickeln Schlagzeilen nachgerade metaphysische Qualitäten. Wie etwa diese: „Säulen der Schöpfung sind dem Untergang geweiht“. Leider hält der Inhalt der Geschichte nicht, was der tolle Titel verspricht. Es geht um irgendwelche langweiligen Nachthimmel-Polaroids des Hubble- Weltraumteleskops.

Ab und an wird eine Schlagzeile sogar besser, wenn man sich verliest „Genomentschlüsselung soll mehr Licht ins Hummelsterben bringen.“  Ich las statt Hummelsterben versehentlich Hummelst-Erben und freute mich schon auf die abenteuerliche Geschichte eines tödlichen Erbschaftsstreits, der die altehrwürdige Familie Hummelst entzweit hat und nun mit Hilfe von Geheimbotschaften gelöst wird, die in die Struktur der Doppelhelix eingenäht waren. Leider währte die kriminalistische Vorfreude nur kurz, da ich sogleich merkte, dass es sich nicht hier um einen  Verlassenschaftsstreit sondern um einen Verleser handelt. In Wirklichkeit ging’s in dem Artikel von eine lebensbedrohliche Malaise, die den bienenähnlichen Brummern hierzulande zu schaffen macht. Die Lektüre des apokalyptischen Artikels entpuppte sich rasch als triste Angelegenheit.  Nein, lustig ist so ein Hummelsterben nicht. Zumindest erfuhr ich, dass das staatenbildende Hummelvolk sich  deshalb ein schwächeres Immunsystem leisten kann, weil man hummelintern großen Wert auf Körperpflege legt und sich deshalb gegenseitig regelmäßig putzt. Das ist sicherlich eine schöne hummelspezifische Info, wenngleich ich  mir nicht sicher bin, ob ich sie außerhalb dieses Textes jemals wieder verwenden werde.

Apropos Tiere: Auch der Wissenschaftsredaktion der Neuen Zürcher Zeitung verdanke ich Erkenntnisse von zweifelhafter Relevanz, die ich nun wohl bis ans Ende meines irdischen Gastspiels mitschleppen werde.  Etwa, dass die Schnappkieferameise in ihrem  Mundwerk ein Sprunggelenk eingebaut hat, mit dessen Hilfe sie sich aus Fallen katapultieren kann, die von Ameisenlöwen errichtet werden. Nun weiß ich also, wie ein Hautflügler den Houdini macht. Naja. Es lässt sich nicht schönreden. Diese zoologische Schnurre ist nutzlos. Ganz im Unterschied zu einer anderen Fachinformation. So entnahm ich vor einigen Tagen einer einschlägigen Wissenschafts-Seite, dass sowohl eine raschelnde Alufolie als auch ein Zungenschnalzen bei Katzen Krampfanfälle auslösen können. Eine Top-Info, die im Extremfall sogar über Leben und Tod entscheiden kann! Man stelle sich nur folgendes Szenario vor: Ein Tourist flaniert nichtsahnend durch die Serengeti und wird plötzlich von einem Löwen belästigt. Keine Frage, eine blöde Situation. Nun ist guter Rat teuer. Safari-Urlauber sollten sich daher folgendes in den Urlaubsplaner notieren: Beim Besuch der baumarmen Savanne im nördlichen Tansania immer entweder eine Rolle Stanniolpapier oder eine Zunge mit sich führen.

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Silvia Jelincic

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Herbert Erregger

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liberty

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fischundfleisch

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