Der blutige Terroranschlag auf die französische Satirezeitung „Charlie Hebdo“ hält die Welt seit Tagen in Atem. Das Massaker – Massaker, nicht „Massaker“, lieber ORF! – hat vor allem in Europa für Entsetzen gesorgt. Dabei war es nicht das erste Verbrechen dieser Art: Man denke an den 11. September 2001 in New York, den 11. März 2004 in Madrid, den 7. Juli 2005 in London oder den 22. Juli 2011 in Utøya und Oslo. Trotzdem ist der 7. Jänner 2015 anders. Aber warum?
Die Antwort liegt in der Art und Weise, wie Menschen, diese Verbrechen rezipieren. In den Jahren 2001, 2004 und 2007 oblag die Deutungshoheit derartiger Ereignisse zum Großteil noch den klassischen Medienbetrieben. Das Prinzip Social Media gab es in der heutigen Form gar nicht oder es steckte noch in den Kinderschuhen. Selbst im Jahr 2011 hatte Social Media das Leben noch nicht in dem Ausmaß besetzt wie im Jahr 2015.
Und genau im Social Media-Kosmos, jenem unüberschaubaren Purgatorium des digitalen Jetzt, wird das Pariser Attentat aktuell verhandelt. Eigentlich ging alles ziemlich schnell: Der Anschlag war kaum vorüber, die Informationslage noch trübe, da hatten sich Millionen User schon ihre unverrückbaren Instant-Meinungen gebildet. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich zudem auf den verschiedenen Kanälen ein Solidaritätsruf: „Je suis Charlie“. Unzählige Menschen luden sich den Spruch sogar bei als Profilbild bei Facebook oder bei Twitter hoch. Man werde Flagge zeigen, war zu hören. Man müsse jetzt seine Stimme gegen den Terror erheben, hieß es. Solidarität sei nun das Gebot der Stunde, wurde gefordert. Die Welt rücke nun zusammen, wurde vollmundig behauptet. Und wir alle waren plötzlich ein Printprodukt aus Paris. Egal ob wir der französischen Sprache überhaupt mächtig sind oder nicht. Wir alle waren plötzlich Charlie.
Wir alle?
Nein. Diese digitale „Jesuis Charlie“-Welle fühlt sich falsch an. Hier meine drei Einwände. Erstens: Bei „Ich bin“-Solidaritätsbekundungen schwingt immer auch eine gehörige Portion Anmaßung mit. Gerade in diesem speziellen Fall. Denn im Unterschied zu den ermordeten Mitarbeitern von Charlie Hebdo, würde die überwiegende Mehrheit der Solidarisierungsprofis natürlich nie und nimmer auf die Idee kommen, ihr Leben für die Meinungsfreiheit aufs Spiel zu setzen.
Zweitens: Der Protest ist sinnlos. Weder erreicht er potenzielle Täter, noch trägt er dazu bei, Anschläge in Zukunft zu verhindern. Er ist nichts weiter als ein digitaler Schrei nach Aufmerksamkeit. Ein Social Media-Placebo. Eine unverbindliche und effekthascherische Geste. Schlimmer noch: Die „Jes suis Charlie“-Anmaßung simuliert das trügerische und falsche Gefühl, etwas Mutiges getan zu haben und betäubt damit jede Bereitschaft zur tatsächlichen Handlung. Großspurige Profilbildchen sind nämlich die billigsten aller politischen Statements. Und am bequemsten lässt sich der Kampf für die Freiheit immer noch von der eigenen Couch aus mit einem Smartphone in der Hand führen.
Drittens: Inzwischen ist wirklich jeder noch so unpassende Sympathisant auf den Charlie-Zug aufgesprungen. Selbst Boulevard- und Gratisblätter verkünden marktschreierisch, dass sie Charlie sind. Und das obwohl derartige Printerzeugnisse in ihrer entfesselten Kleinbürgerlichkeit die Antithese zur französischen Satirezeitschrift verkörpern. Aber es geht noch tiefer. Sogar PEGIDA-Aktivisten sind auf Facebook jetzt schon Charlie. Berauscht von Halbbildung und Hybris glaubt das intellektuelle Prekariat offenbar, dass es mit Charlie Hebdo einen Waffenbruder im gemeinsamen Kampf zur Rettung des Abendlandes gefunden hat. Nach dem Motto: Gestern Antisemit, heute Charlie, morgen wieder Antisemit.
Nein, die falsche Solidarität der Zeigefingerschwenker und Trittbrettfahrer, der Montagsmarschierer und Sonntagsredner, der Selbstdarsteller und Betroffenheitsprofis, der Problemverdränger und der Problemaufbauscher haben sich die ermordeten Redakteure, Polizisten und Geiseln nicht verdient. Der Respekt vor den Opfern des Anschlages lässt für mich nur einen Schluss zu: Ich bin nicht Charlie. Und ihr wohl auch nicht.