Wenn historisch interessierte Katzen einst zurückblicken und sich fragen, wann jene schicksalsträchtigen Entwicklungen ihren Ausgang nahmen, die dazu führten, dass ihre Spezies den Menschen als Herrscher des Planeten ablöste, werden sie auf den Februar des Jahres Zweitausendfünf stoßen. Dann damals, also vor genau zehn Jahren, ging das Zentralorgan der globalen Katzenpropaganda online. Die Rede ist natürlich von der Videoplattform YouTube. Doch nicht nur die possierlichen Prädatoren verdanken der Videoplattform eine Menge, auch das zum damaligen Zeitpunkt noch ziemlich dominante Menschengeschlecht wurde von YouTube geprägt – und nachhaltig verändert.
Da wäre zu einem die Explosion der Inhalte. Bis 2005 war das, was man via TV oder Konserve (DVD, VHS oder meinetwegen Video 2000) konsumieren konnte, halbwegs überschaubar. Sicher, im digitalen Mesozoikum konnte man alle sieben Staffeln von Buffy The Vampire Slayer, die ersten acht Staffeln von South Park oder das Gesamtwerk von David Lynch, Werner Enke oder Paul Verhoeven am Stück koma-konsumieren. Aber das war schon damals eher etwas für Zeitgenossen mit einem großzügig dimensionierten Füllhorn an Tagesfreizeit. Mit YouTube war es erstmals vorbei mit der alten Übersichtlichkeit. Was mit einem kargen Rinnsal an Amateurvideos begann, wuchs innerhalb weniger Jahre zu einer Sturzflut an mehr oder weniger sinnvollen Beweg- und Standbildern an.
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Die neue Unübersichtlichkeit lässt sich hübsch in Zahlen gießen: Aktuell kommen auf YouTube jede Minute 300 Stunden an neuem Videomaterial dazu. Das sind pro Tag 432.000 Stunden Material. Wer den gesamten YouTube-Output eines ganzen Tages ansehen möchte, sollte sich möglichst ab der Geburt nicht viel vornehmen. Er wird nämlich knapp 50 Jahre am Stück vor Bildschirm oder Smartphone-Display sitzen. Und ganz ehrlich: Wer will das schon?
Apropos wollen: Wer will, kann sich auf YouTube die gesamte Bandbreite des popkulturellen Schaffens der vergangenen 500 Jahre per Tastendruck ansehen und –hören. Die Kunst der Fuge? Klick. Hank Williams? Klick? Die Beatles bei Ed Sullivan? Klick. Brian Wilson und Pet Sounds? Klick. Punk? Klick. Afrika Bambaataa? Klick. Kate Perry samt Haifisch-Tänzer in der Superbowl Halftime Show? Klick. Oh, und ein bisher verschollen geglaubtes Kassetten-Demo eines obskuren japanischen Singer Songwriters von 1992? Klick. Klick. Klick.
Alles – egal ob populär oder obskur – war plötzlich in der Sekunde abrufbar. Das popkulturelle Schlaraffenland entpuppte sich aber schnell als Hölle des Überflusses: Diese von jedem Kontext befreite Diktatur der permanenten Gleichzeitigkeit beschleunigt den Niedergang der Popmusik, wie er ab Mitte der 90er-Jahre des vorigen Jahrtausends abzusehen war. Ein vollgerammeltes Museum ist eben der denkbar schlechteste Ort für eine Revolution. Und im ewigen Gestern kann es kein hier und jetzt geben. Auch wenn die ironischen Hipster-Kuratoren uns das immer noch weiß machen wollen. „Pop will eat itself“ hieß circa 1986 eine einflussreiche Band aus England. Ein für die damalige Zeit prophetischer Name. Denn in den 1980ern war das ewige Wiederkäuen des immer selben nur bedingt absehbar. Und heute? Retro ist Pop, oder abgekürzt RIP.
Doch hinfort mit dem Kulturpessimismus und her mit der Polemik: Dank YouTube konnte zumindest eine der großen Fragen des Menschengeschlechts beantwortet werden. Sie lautet: Wie viel Dummheit ist eigentlich menschlich möglich? YouTube funktioniert hier als eine Art Echolot, das die Untiefen menschlicher Intelligenzverweigerung vortrefflich auszumessen vermag. Denn dank der Kommentar-Leiste unter YouTube-Videos kann man innerhalb weniger Sekunden zu fast jedem Thema auf der Welt die dümmste nur irgendwie vorstellbare Sichtweise einholen. Wer das übrigens nicht tröstlich findet, liebt wahrscheinlich auch Katzenvideos und ist somit Teil des Problems.
Wahrscheinlich habe ich jetzt aber schon zu viel gesagt. Ich will es mir ja mit den künftigen Herrschern nicht endgültig verscherzen. Darum: Lang lebe YouTube! Und natürlich: Miau!