„Ein Like ist eben kein Wahlzettelkreuz“

Der endgültige Entschluss des WDR, Nemi El-Hassan nicht für die Moderation der Wissenschaftssendung "Quarks" zu besetzen, bereitet manchen Journalisten echte (Liebes-)Schmerzen.

In der Berliner Zeitung jault der Kulturredakteur Hanno Hauenstein herzzerreißend auf. Er hält den Entschluss des WDR für „ein falsches Signal“ und begründet es damit, dass die „preisgekrönte Journalistin, die sich in Beiträgen der letzten Jahre immer wieder aktiv gegen Antisemitismus und Rassismus und für interkulturelle Verständigung engagiert hat“, sich „glaubwürdig“ für ihre Teilnahme am al-Quds-Marsch 2014 „entschuldigt“ hätte. Und sich darüber hinaus „einem tendenziösen Kreuzverhör-Interview des Spiegel (stellte), in dem sie ihre guten Absichten verdeutlichte“.

Nun, auch gutgläubige Romantiker wie Hanno Hauenstein, denen gegenteilige, die Glaubwürdigkeit von El-Hassan erschütternde Umstände nichts bedeuten, dürfen sich Journalisten nennen. Traurig, aber wahr.

El-Hassan äußerte sich gegenüber der Berliner Zeitung dazu wie folgt: „Bei den letzten Vorwürfen geht es um Posts auf der Instagram-Seite ‚Jewish Voice For Peace‘, einer der größten jüdischen Friedensorganisationen in den USA, die ich geliked habe. Das heißt aber nicht, dass ich automatisch jedem Inhalt zustimme oder mich blind solidarisiere. In den sozialen Medien liked man Sachen auch, wenn sie schlicht Nachrichtenwert haben. Ich war naiv zu denken, ich könnte mich unbefangen und frei in den sozialen Medien bewegen.“

Das rührt einem doch gleich das Herzelein, oder? Hauenstein springt der „todtraurigen“ Nemi, die ebenso wie er die berüchtigte BDS-assoziierte Organisation „Jewish Voice for Peace“ zu einer Friedensorganisation verklärt, zur Seite und meint, der WDR „(habe) es offenbar verschlafen ( ), die Logik sozialer Medien nachzuvollziehen. Ein Like ist eben kein Wahlzettelkreuz, kein Ausdruck unbedingter Affirmation. Oft ist es lediglich ein sich der kurzatmigen Schnelllebigkeit sozialer Medien anverwandelndes und oft impulsiv gesetztes Zeichen dafür, etwas gesehen zu haben.“

Das hat der Hanno schön gesagt, oder? Mir gefällt's. Und er gesteht in diesem Zusammenhang, auch er habe „in den knapp 15 Jahren, seit soziale Medien anfingen, unseren Alltag zu bestimmen, Dinge geliked, für die wir uns heute schämen würden. Der einzige Unterschied: Die meisten von uns sind weiß. Die meisten haben keine palästinensischen Wurzeln. Und die wenigsten von uns trugen je ein Kopftuch als Ausdruck unserer Religion.“

Ja, da hat einer seine Critical-Whiteness-Lektion ordentlich gelernt, oder?

Und Hanno scheut sich auch nicht, seine „unbedingte Affirmation“ zu Begriffen wie Apartheid auszudrücken, den schließlich viele (berüchtigte) NGOs oder leftwinger, auch im jüdischen Staat selbst, beim Israel-Bashing ins Spiel bringen. Glasklar erkennt er: „Zu sagen, allein ihr Aussprechen – oder (...) ihr Liken – spreche Israel das Existenzrecht ab oder stelle einen "problematischen" Kontext dar, der eine Nicht-Anstellung rechtfertigt, ist in sich eine ideologische Behauptung.“

Denn: „Weder wird dies der Realität international geführter Debatten über israelische Politik gerecht, noch hilft es, die diskursive Schärfe des Antisemitismus-Begriffs aufrechtzuerhalten, der in Deutschland inzwischen zunehmend einer konsequenzlosen Worthülse gleicht.“

Hanno meint es wirklich gut mit Nemi. Ehrensache unter BDS-Sympathisant:innen.

Schließlich erweist der gute Hanno auch noch der antizionistischen Philosophin Judith Butler die Ehre, die ihm anlässlich seiner Interview-Anfrage zu „Debatten über eine erneuerte Erinnerung an den Holocaust in Rückkopplung an die Kolonialgeschichte – sowie über die Abwehr jener Zugänge als vermeintliche Holocaust-Verharmlosung oder Antisemitismus“ (Stichwort „Zweiter Historikerstreit“) antwortete: „Ich spreche oder schreibe über dieses Thema nicht mehr im deutschen Kontext.“

Was ihn wiederum „verzweifelt stimmte“ und sagen lässt: „In unserer germano-zentrischen Sichtweise haben "wir" Deutsche es fertiggebracht, was sonst wohl in kaum einem anderen Land denkbar wäre: eine der wichtigsten jüdischen Intellektuellen der Jetztzeit aus "unserem" Diskurs auszuschließen.“

Schnief ...

Hannosplaining: „Diese spezifisch deutsche Form des Anti-Antisemitismus, die Antisemitismus überall dort wittert, wo die eigene Scham darüber getriggert wird, Nachfahren von Nazis zu sein, anverwandelt sich (...) in seiner ideengeschichtlichen und diskursiven Logik dem Antisemitismus letztlich mehr als der jüdischen Tradition, die er zu schützen auftritt.“

Adleraugengleich erkennt Hanno, „dass in dieser Debatte momentan tatsächlich Rassismus und nicht Antisemitismus am Werk ist“, will sagen: Nemi ganz allein (ungeachtet der Gegenfakten) ist hier das Opfer.

Rassistische Anfeindungen, die El-Hassan in Social-Media-Kommentaren entgegenschlagen, sind natürlich unschön. Antisemitische Parolen und tätliche Angriffe auf al-Quds-Märschen sind es auch. Hannos Schmerzen gelten aber der geliebten Nemi. Und weil sie gerne Likes für antiisraelische Posts vergibt, meint der Hanno folgerichtig, dass man nun gefälligst Nemi vergibt.

Am Ende verweist Hanno noch auf eine "Inkohärenz", die tatsächlich vielen am Entschluss von Tom Buhrow auffallen sollte: „Sind El-Hassans Likes zwar einerseits zu schlimm, um die Journalistin sichtbar zu zeigen – aber harmlos genug, um sie das Programm mit konzipieren zu lassen? Die Begründung des WDR wirkt verlogen und grotesk.“ Und er führt weiter aus: „Weshalb stellte der WDR sich 2020 verteidigend vor Lisa Eckhart, die durch antisemitische Witze über Juden auffiel, wenn er zugleich "problematische Likes" für einen jüdischen Account als Grund gegen die Anstellung einer kritischen Journalistin einbringt?“

Wo der Hanno recht hat, hat er recht.

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Manfred Breitenberger

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