Wir müssen über die Klimaproteste reden.

Immer wieder tauchen in letzter Zeit traurige Videos und Fotos auf, die Otto Normalbürger und Ottilie Normalbürgerin dabei zeigen, wie sie, mit deutlichen Selbstjustizzügen, brutalste Gewalt gegen friedliche Klimaaktivisten ausüben, die ihnen missfallen.

Entsetzlicher Höhepunkt war zuletzt der Versuch eines LKW-Fahrers einen Aktivisten der „Letzten Generation“ mit einem 40-Tonner regelrecht zu überrollen.

Bis es die ersten Toten geben wird ist es vermutlich, wenn unsere Gesellschaft nicht endlich der Enthemmung etwas entgegensetzt, nur noch eine Frage der Zeit.

Wir sehen dem mit Angst entgegen und hoffen, dass wir uns irren. Aber da die Geschichte dereinst ein Urteil über diese unsere Zeit sprechen wird, wollen wir hier, unzweideutig festhalten, wo wir gestanden haben, als es darauf ankam. Als es noch unpopulär war.

Was uns wiederum zu Frage führt, was zum Teufel eigentlich aus uns geworden ist und wann genau das angefangen hat?

Und: Wie gefährlich sind denn die Klimaaktivisten, die ja nun buchstäblich die letzte Generation darstellen, die überhaupt noch in die drohende Katastrophe eingreifen kann, wirklich?

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Zu letzterer Frage gibt es eine Antwort:

Es liegt nämlich ein radikales, aktivistisches Manifest vor, als Kassiber aus einer Haftanstalt geschmuggelt, das durchaus als ideologisch- theoretische Schrift verstanden werden will.

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In Auszügen:

„Sie beklagen die Demonstrationen, die sich hier zugetragen haben. Ich beklage, daß Sie sich nicht in ähnlicher Härte über die Situation geäußert haben, die solche Demonstrationen herbeigeführt hat. Sicherlich würde keiner von Ihnen sich mit einer oberflächlichen Analyse gesellschaftlicher Zustände zufriedengeben, die sich nur mit Auswirkungen befasst und es unterlässt, sich Gedanken über ihre Ursachen zu machen.

(….)

Für jeden gewaltlosen Feldzug gibt es vier grundlegende Regeln: Prüfung der Tatsachen, ob Unrecht vorliegt; Verhandlungsführung; Selbstprüfung und direktes Vorgehen. Alle diese Schritte haben wir zurückgelegt. (…)

Auf Grund dieser Gegebenheiten bemühten sich die maßgebenden Personen um Verhandlungen mit den Stadtoberhäuptern, die sich jedoch stets weigerten, sie vertrauenswürdig zu führen.

Im vergangenen September bot sich schließlich die Gelegenheit, mit Wirtschaftsführern ins Gespräch zu kommen. Im Verlauf dieser Verhandlungen wurden von den Geschäftsleuten gewisse Zusicherungen gemacht.

(…)

Wie so oft in der Vergangenheit waren wieder einmal unsere Hoffnungen betrogen worden, und wir fanden uns alle zutiefst enttäuscht. Es blieb uns kein anderer Ausweg, als zur Direktaktion überzugehen und jetzt unsere eigenen Körper dafür einzusetzen, um unseren Fall sowohl vor der örtlichen Gemeinde wie der gesamten Volksgemeinschaft darzulegen. Da wir uns bewußt waren, welche Schwierigkeiten zu überwinden sein würden, entschlossen wir uns, zunächst eine Reihe von selbstprüfenden Maßnahmen zu ergreifen.

Wir führten Arbeitssitzungen über das Wesen der Gewaltlosigkeit durch und befragten uns häufig: „Kannst du Schläge erdulden, ohne zurückzuschlagen? Kannst du die Qual der Inhaftierung ertragen?“ Wir entschieden dann, unser Aktionsprogramm in der Osterzeit zu verwirklichen, denn wir wußten, daß — von Weihnachten abgesehen — dies die hauptsächlichste Einkaufszeit ist. Wir wußten auch, daß als Begleiterscheinung unseres unmittelbaren Vorgehens eine starke Störung zu erwarten war, und waren darum sicher, daß dies der beste Zeitpunkt sei, um auf die Geschäftswelt jenen Druck auszuüben, der nötig ist, um Änderungen herbeizuführen.

(…)

Sie mögen nun die Frage aufwerfen: „Warum denn Direktaktion? Warum denn ,Sit-ins‘, Märsche und ähnliches? Wären Verhandlungen nicht viel sinnvoller?“ Ihr Ruf nach Verhandlungen ist sicherlich berechtigt.

Tatsächlich liegt in ihnen Sinn und Zweck der Direktaktion. Die gewaltlosen Direktaktionen bemühen sich, ein so kritisches Spannungsverhältnis zu schaffen, daß eine Gemeinde, die sich bis dahin hartnäckig geweigert hat, Verhandlungen zu führen, sich nun gezwungen sieht, den Tatsachen ins Auge zu blicken.

Die Direktaktion will die Streitfrage so dramatisch herausstellen, daß man sie nicht länger zu ignorieren vermag. Wenn ich hier darlege, daß die Erregung einer solchen Spannung zu dem Bestreben des gewaltlosen Widerständlers gehört, dann mag dies für manche schockierend klingen. Ich bekenne jedoch, daß ich mich nicht vor dem Wort „Spannung“ ängstlich hüte. Ich war und bin immer gegen Opposition, die Gewalt anwendet, aber ich weiß, daß es fruchtbare und aufbauende gewaltlose Spannungen gibt, und der Fortschritt braucht sie

(…)

Die Aufgabe unseres Direktaktionsprogramms ist es, eine Situation herbeizuführen, die so krisenschwanger ist, daß sie unvermeidbar die Tore zu Verhandlungen aufstößt. Ich stimme Ihnen also zu, wenn Sie Verhandlungen fordern.

Ein hauptsächliches Argument, das Sie vorgebracht haben, sagt, daß wir für die Aktion, die meine Gefährten und ich unternahmen, einen falschen Zeitpunkt gewählt hätten. Einige fragten uns: „Warum gewährt ihr denn der neuen Regierung keine Zeit, um zu handeln?“ Die einzige Antwort auf solche Fragen ist für mich, daß die neue Regierung genauso angestoßen werden muß wie die vorhergehende, bevor sie handeln wird.

(…)

Ich muß Ihnen sagen, daß es auf dem gesamten Gebiet der Klimaproteste keinen einzigen Schritt vorwärts gegeben hat, ohne entschiedene, gesetzliche und gewaltlose Druckausübung. Es ist nun einmal eine betrübliche, aus der Geschichte sich ergebende Wahrheit, daß privilegierte Gruppen nur höchst selten ihre Vorrechte freiwillig aufgeben. Einzelne Menschen mögen, von Moral geleitet, zu Erkenntnisgewinn finden und freiwillig Positionen aufgeben, die sie zu Unrecht einnehmen, aber — wie Reinhold Niebuhr uns erinnert hat — Gruppen sind weit weniger als einzelne geeignet, moralisch zu handeln.

(…)

Offen gestanden: Bis heute habe ich noch nie einen Direktaktionsfeldzug durchgeführt, dessen Zeitpunkt die Billigung derer gefunden hätte, die nicht übermäßig unter den Folgen der Klimakatastrophe zu leiden gehabt hätten. Jahrelang habe ich nun die Mahnung „Abwarten!“ gehört, und diese Forderung klingt in den Ohren des Aktivisten bereits schmerzhaft. Das „Warten“ hat fast immer „Niemals!“ bedeutet. Im Einklang mit einem der großen Richter unserer Nation müssen wir die Erkenntnis akzeptieren: „Zu lange verzögerte Gerechtigkeit ist verweigerte Gerechtigkeit.“

(….)

Ich hoffe, daß Sie, unsere gerechtfertigte und unvermeidbare Ungeduld begreifen werden.

(…)

Natürlich ist diese Art bürgerlicher Gehorsamsverweigerung in keiner Weise eine neue Erfindung.

(…)

Niemals sollten wir vergessen, daß alles, was Adolf Hitler in Deutschland tat, „gesetzmäßig“ und daß alles, was die ungarischen Freiheitskämpfer vollbrachten, „gesetzwidrig“ war. „Gesetzwidrig“ war es, einem Juden im Hitler-Deutschland Hilfe und Trost zu gewähren.

(…)

Ich muß Ihnen zwei ehrliche Bekenntnisse ablegen. Zunächst muß ich gestehen, daß mich im Laufe der jüngsten Jahre am tiefsten die Haltung der „Gemäßigten“ enttäuscht hat. Fast bin ich zu demerschütternden Schluss gezwungen worden, daß der „Gemäßigte“ der Idee der „Ordnung“ größere Verehrung entgegenbringt als der Gerechtigkeit an sich.

Der „Gemäßigte“ zieht einen negativen Frieden (die Abwesenheit von Spannung) einem positiven Frieden (der Herrschaft der Gerechtigkeit) vor; er versichert immer wieder: „Im Ziel bin ich mit Euch einig, aber nicht in der Methode, die Ihr gewählt habt um es zu erreichen“; er bildet sich, gleich einem weisen Vater, ein, den Fahrplan für den Freiheitskampf eines anderen fixieren zu können, und läßt sich beherrschen von einer seltsamen Zeitvorstellung, die ihn dazu bewegt, dem Aktivisten stets zu raten, auf einen „geeigneteren Zeitpunkt“ zu warten.

Das schale Verständnis, das Menschen guten Willens einem entgegenbringen, behindert mehr als die absolute Verständnislosigkeit der Übelgesonnenen. Die lauwarme Zustimmung verwirrt viel stärker als die ausgesprochene Ablehnung. Ich hatte zu hoffen gewagt, daß die Gemäßigten einsehen würden, daß Gesetz und Ordnung lediglich deswegen bestehen, um Gerechtigkeit durchzusetzen, und daß sie, wenn sie diesen Zweck nicht erfüllen, sich als gefährliche Hindernisse erweisen, die den Strom des gesellschaftlichen Fortschritts aufhalten.

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Gehofft hatte ich, daß die Gemäßigten begreifen würden, daß die derzeitige Spannung eine notwendige Entwicklungsstufe ist in dem Wandel von einem widerlichen negativen Friedensstand (…) zu einem echten.

Tatsächlich sind wir, die gewaltlose Direktaktionen praktizieren, nicht diejenigen, die die Spannung erzeugen. Wir entlarven lediglich die verborgene Spannung, die schon besteht. Wir bringen sie ans Tageslicht, so daß man sie erkennen und behandeln kann. Genau wie eine Geschwulst nicht geheilt werden kann, solange sie nicht in all ihrer Häßlichkeit den natürlichen Heilkräften ausgesetzt wird, so muß auch die Ungerechtigkeit mit all der Spannung, die dieser Vorgang mit sich bringt, offengelegt und dem menschlichen Gewissen und der öffentlichen Meinung ausgesetzt werden, bevor eine Heilung eintreten kann.

In Ihrer Erklärung betonen Sie, daß unsere Handlungen verdammt werden müßten, da sie — obgleich sie friedlich und gewaltlos sind — dazu angetan seien, Gewaltakte zu provozieren. Ist das wirklich eine logische Schlußfolgerung? Klingt das nicht so, als ob man das Opfer eines Raubüberfalls verurteilt, weil die Tatsache, daß es Geld besitzt, Voraussetzung für den Überfall war?

Ist das nicht so, als ob man Sokrates verdammen wollen würde, weil seine unerschütterliche Hingabe an die Idee der Wahrheit und seine philosophische Suche das Handeln der irregeleiteten Volksmassen ausgelöst hat, die ihn dann dazu zwangen, den Schierlingsbecher zu trinken?

(…)

Wir müssen endlich erkennen, es falsch ist, einen einzelnen aufzufordern, seinen Kampf um seine Gerechtigkeit aufzugeben, weil dieser Kampf Gewalttätigkeiten auslösen kann. Die Gesellschaft muß den Täter bestrafen und seinem Opfer Schutz gewähren.

Meine Hoffnung war es auch gewesen, daß die Gemäßigten ihre absonderlichen Vorstellungen in Bezug auf die Zeit und den Kampf für die Freiheit aufzugeben bereit wären.

(…)

Sie haben unsere Tätigkeit als „extrem“ bezeichnet. Zunächst war ich recht enttäuscht davon, daß jemand meine gewaltlosen Bemühungen als die eines Extremisten ansehen konnte.

(…)

Wenn man erfasst, wie stark der Drang nach vorwärts ist, der die Gemeinschaft der Aktivisten erfasst und gepackt hat, dann sollte man verstehen können, warum es zu Demonstrationen gekommen ist.

(…)

Wenn ihre unterdrückten Gefühle sich nicht in gewaltloser Weise äußern dürfen, dann werden sie in Gewalttätigkeit ihren Ausdruck finden: Dies ist nicht als Drohung, sondern als geschichtliche Tatsache zu verstehen. Ich sagte also auch nicht zu meinen Leuten: „Werdet eure Unzufriedenheit los!“, sondern versuchte vielmehr, ihnen zu erklären, daß diese durchaus normale und gesunde Unzufriedenheit in die konstruktiven Bahnen gewaltloser Direktaktionen geleitet werden kann! Und nunmehr nennt man diese Haltung „extremistisch“.

Aber obschon ich zunächst davon enttäuscht war, daß man mich in den Reihen der Extremisten unterbrachte, so gewann ich doch bei längerer Überlegung eine gewisse Befriedigung aus dieser Abstempelung.

(…)

Ich hatte die Hoffnung gehegt, daß die Gemäßigten dieses Bedürfnis erkennen würden. Vielleicht war ich zu optimistisch, und vielleicht erwartete ich zu viel

(…)

Aber ich bin dankbar dafür, daß einige unserer Brüder das Wesen dieser gesellschaftlichen Umwälzung erkannt und sich ihr verschrieben haben. An Zahl sind sie noch zu wenige, aber sie sind von überragendem Wert. (…)

Ich bin nicht in der Lage, in Ihr Loblied auf die Polizei mit einzustimmen. Wahr ist, daß die Polizei ein gewisses Maß der Disziplin in der Behandlung der Demonstranten gewahrt hat. In diesem Sinn hat sie in den Augen der Öffentlichkeit sich ziemlich „gewaltlos“ betätigt. Aber zu welchem Zweck ist das passiert?

(,…)

Während der vergangenen Jahre habe ich immer wieder gepredigt, daß die Gewaltlosigkeit verlangt, daß die Mittel, die wir anwenden, genauso sauber sein müssen, wie die Ziele, die wir anstreben. Aber jetzt muß ich feststellen, daß es genauso falsch ist — oder vielleicht noch mehr —, unmoralisch saubere Mittel anzuwenden, um unmoralische Institutionen zu bewahren.

(…)

Oder, wie es T. S. Eliot formulierte: „Die letzte Versuchung ist der größte Verrat: die rechte Tat für den falschen Grund zu vollbringen.“

Ich wünschte, Sie hätten ein Wort des Lobes gefunden für Demonstranten, die so erlesenen Mut, solche Bereitschaft zu leiden und zu erdulden und eine so erstaunliche Disziplin angesichts gewaltiger Provokationen bewiesen haben. Der Tag wird kommen, an dem wir diese wahren Helden erkennen“

(…)

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Klingt ziemlich extrem oder?

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Linksextremistisch, nein?

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Nun, wir haben uns einen kleinen argumentativen Trick erlaubt.

Der vorstehende Text ist in Wirklichkeit nur eine leicht modernisierte, ausschnitthafte Übersetzung von „Letter From A Birmingham Jail“ von Dr. Martin Luther King jr., in der wir lediglich Begriffe ausgetauscht (Schwarze z.B durch Aktivisten), theologische Exkurse und konkrete Bezüge zu Birmingham 1962 ausgespart und ein anderes Framing vorgegeben haben.

Die Argumentation selbst blieb unverfälscht.

Unternimmt man all dies, wird die Modernität des Textes und die intellektuell tiefenscharfe Radikalität des Kingschen Textes sofort offensichtlich.

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Uns ging es darum, auf diese Weise aufzuzeigen wie unreif, kleingeistig und geschichtsvergessen die Argumentation über gewaltlosen, zivilgesellschaftlichen Protest namentlich bei uns in Deutschland geführt wird. Ganz als habe Dr. King seinen bahnbrechenden Text von 1962 nie verfasst, als habe die Geschichte der Bürgerrechtsbewegung niemals Recht gegeben.

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King, ein früher radikaler Antirassist und christlicher Sozialist (https://t.co/8Lt5zK0qdN) , lieferte IN diesem Text das Fundament dafür, was gewaltloser ziviler Widerstand sein muss, wie er auszusehen hat und, nahezu prophetisch, wo und wie die Grenzen liegen.

King war Bürgerrechtler, Menschenrechtler. Aktivismus gegen die drohende Klimakatastrophe ist in allererster Linie Menschrechts- und Bürgerrechtsaktivismus, meist der, der unmittelbar betroffenen Generation. Es GIBT daher eine Vergleichbarkeit.

Dieser Text, mehr als jeder andere, sollte daher die theoretische Basis sein, wenn wir über die Proteste gegen die Klimakatastrophe reden.

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Natürlich kann und sollte man Auswüchse kritisieren.

Und natürlich kann man das alles auch kindisch finden, auf persönliche Unreife der Demonstrierenden schieben, sich über Regelbrüche empören, Hass und Antipathie auf die vorgeblichen Störenfriede entwickeln, mit einer seriösen Diskussion aber hat das alles null und nichts zu tun.

Wer sich über all das so lautstark echauffieren kann, es aber zugleich nach 7 Jahren Protesten und einer wissenschaftlich eindeutigen Lage immer noch nicht schafft, eine ähnliche Empathie für die hunderttausenden Leben aufzubringen, die wir gerade willig einer Naturkatastrophe zu opfern im Begriff sind, die man sehr wohl noch aufhalten könnte, dann stimmen irgendwo und irgendwie die ethischen Proportionen auf dem allerfundamentalsten Level nicht mehr.

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Die Diskussion in Deutschland hat etwas von einem nervigen Hausbesitzer, der einen Feuerwehrmann mit einem Knüppel vermöbelt, weil der den falschen Hydranten angezapft hat, während hinter dem fleischgewordenen teutonischen Gartenzwerg, der sich gerade den Kopf rotbrüllt, dessen Bude auf die Grundmauern niederbrennt.

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Das siebte Flugblatt

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