Im Frühjahr 1940 nahm die Massenvernichtungsanstalt Hartheim bei Linz im Rahmen der „Aktion T4“ihren mörderischen „Betrieb“ auf, welcher 30.000 Menschen zum Opfer fielen. Alle in Hartheim tätigen „Mitarbeiter“, unter ihnen Ärzte, Fahrer, Heizer, Verwaltungs- und Kanzleiangstellte, waren durch ein sog. „Notdienstverpflichtung“ zum Dienst versetzt worden, was bedeutete, dass Arbeiter und Angestellte staatlicher Behörden aus ihren bestehenden Arbeitsverhältnissen entlassen und zu bestimmten, ihnen zugewiesenen Tätigkeiten, herangezogen wurden. Die „Notdienstverpflichtung“ stützte sich auf die 1938 erlassene „Notdienstverordnung“, laut derer der Bevölkerung Notdienstleistungen für einen begrenzten oder unbegrenzten Zeitraum angeordnet werden konnte.
Kaum jemand wurde auf Bewerbung in Hartheim angestellt, in der Regel erfolgte eine Anstellung aufgrund von Fürsprache bzw. Vermittlung höherer Parteidienststellen. Vor der Anstellung eines „Mitarbeiters“ wurden Informationen über die „politische Zuverlässigkeit“ und sein Engagement in nationalsozialistischen Organisationen eingeholt. Ausgewählte Mitarbeiter wurden über ihre Tätigkeit in Hartheim im Dunkel gelassen, wussten lediglich, dass es sich um eine „Geheime Regierungssache“ handeln würde.
Beim Dienstantritt mussten sie eine „Schweigeerklärung“ unterzeichnen, die auf den Faktor „Einschüchterung“ abzielte. Diejenigen, die für Hartheim „notdienstverpflichtet“ waren, hatten geringe Chancen, wieder wegzukommen. Die unmittelbare Einberufung zur Wehrmacht war in der Regel die Folge eines Entzuges aus einer Notdienstverpflichtung, auch die Verfolgung durch die Geheime Staatspolizei, gegebenenfalls die Einweisung in ein Konzentrationslager.
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Unter den „Mitarbeitern“ in Hartheim befanden sich acht Pflegerinnen und drei Pfleger aus der Heil- und Pflegeanstalt Ybbs an der Donau, darunter Franz Sitter (1902 - 1980). Die Pflegepersonen waren, bis auf Franz Sitter, in der Zeit von Mai 1940 bis zur Auflösung der Anstalt im Jahre 1943 in Hartheim tätig und beteiligt an der „Aktion T4“, welche für die Organisation und Durchführung von tausenden „Geisteskranker“ stand, sowie an der Tötung tausender kranker und arbeitsunfähiger Häftlinge aus den Konzentrationslagern Mauthausen, Gusen, Dachau, und wahrscheinlich auch Buchenwald und Ravensbrück im Rahmen der „Aktion 14f13“.
Zunächst waren sie für die Hilfe beim Auskleiden der zur Vergasung nach Hartheim transportieren Patienten zuständig, danach führten sie die Menschen der, - vorgetäuschten -, „ärztlichen Untersuchung“ vor, bei welcher Patienten mit Goldzähnen ein Kreuz auf den Rücken gestempelt wurde und übergaben sie hernach einem Sonderkommando, das die Kranken die, als Dusche getarnte, Gaskammer verbrachte. Das Einleiten des Giftgases stellte ärztliche Aufgabe dar. Zu den „pflegerischen Tätigkeiten“ gehörte auch das „Bündeln“ der zurückgelassenen Kleidungsstücke und Besitztümer. Weiters wurde das Pflegepersonal zur Begleitung von Patiententransporten, - von den Ursprungsanstalten aus ganz Österreich über die Zwischenanstalten Niedernhart (Linz) und Ybbs an der Donau nach Hartheim -, eingesetzt. Die Aufgabe der Pflegepersonen bestand im „Hineinbringen“ in den Autobus und der Betreuung auf der Fahrt. Zu den weiteren Tätigkeiten der beiden Pfleger gehörten die Entfernung von Leichen aus der Gaskammer, das Ziehen der Goldzähne, die anschließende Verbrennung von Leichen im Krematorium sowie die Reinigung der Gaskammer von Erbrochenem und Exkrementen.
Die Staatsanwaltschaft Linz erhob am 28.7.1947 neben weiteren Beteiligten auch gegen fünf Pflegerinnen und einen Pfleger aus Ybbs an der Donau Anklage wegen der Mitschuld am Mord nach § 5, § 134 und § 137 StGB in Tateinheit mit dem Verbrechen der Mitschuld an Quälereien und Misshandlung nach § 5 StGB und § 3 Kriegsverbrechergesetz. Die Hauptverhandlung wurde vor dem Landesgericht in Linz als Volksgericht geführt (25., 26.11.1947). Die fünf Pflegerinnen wurden im Zweifel freigesprochen, da sie infolge Personalmangels ohne Berücksichtigung ihrer politischen Einstellung aufgrund ihrer fachlichen Kenntnisse in Hartheim notdienstverpflichtet worden waren und diese Notdienstverpflichtung nicht auf ihr persönliches Betreiben hin erfolgt war. Das Gericht schenkte ihren Behauptungen, nichts von den Vergasungen gewusst zu haben, allerdings keinen Glauben.
Ein Pfleger wurde für schuldig befunden, da er seine Anstellung in Hartheim aufgrund seiner nationalsozialistischen Einstellung forciert hatte, d. h. er war freiwillig nach Hartheim gekommen, obwohl er nachweislich vorher über die dortigen Geschehnisse informiert worden war. Das Urteil lautete: 2 ½ Jahren schwerer Kerker.
Der verbleibende Pfleger entzog sich dem Gerichtsverfahren am 4.8.1946 durch Erhängen in seiner Zelle.
Dagegen verlief der Lebensweg des psychiatrischen Pflegers Franz Sitter ganz anders:
Franz Sitter war am 6.2.1902 in Winterberg, in der Tschechoslowakei, geboren worden. Zunächst erlernte er den Beruf Maschinenschlosser, im Juli 1925 bot ihm jedoch die Möglichkeit in der Heil- und Pflegeanstalt Ybbs als Krankenpfleger im engeren Sinne im „Irrendienst“, wofür er Anfang März 1927 die vorgeschriebene „einfache Fachprüfung“ ablegte, tätig zu werden. Im Juni 1930 wurde er „definitiv“ gestellt (beamtet) und legte ein Jahr später die „besondere Fachprüfung“, die ihn zu „höheren“ Pflegeleistungen qualifizierte ab. Seine Beurteilungen durch die Dienststelle waren „überdurchschnittlich“, Franz Sitter war gerne Pfleger. Im Jahre 1929 hatte er geheiratet, der Ehe waren zwei Kinder (Franz und Renate) hervorgegangen.
Im Oktober 1940 wurde er spät abends, völlig unvermittelt, in die Direktion einberufen - die Nationalsozialisten waren zu diesem Zeitpunkt seit zwei Jahren an der Macht. Zwei Herren in Uniform boten ihm eine „Notdienstverpflichtung“ zur Begleitung von Transporten bzw. Verlegung von „Geisteskranken“ an, welche Sitter ahnungslos annahm. Wie auch alle anderen Bediensteten musste auch Sitter die sog. „Schweigeerklärung“ unterschreiben. Zwei Tage später begleitete Franz Sitter den ersten Transport von „Geisteskranken“, der über Niedernhart nach Hartheim führte, ohne dass ihm das Ziel Hartheim mitgeteilt worden war. Im Anschluss hatte er weitere Transporte zu begleiten, darunter einen aus der Heil- und Pflegeanstalt Feldhof (Graz) nach Niedernhart. Verwundert darüber, dass den Patienten auf der langen Fahrt nichts zu essen oder zu trinken verabreicht wurde, sprach er den Transportleiter auf diesen Umstand mit, woraufhin ihm scharf mitgeteilt worden war, dass ihn dies gar nichts angehen würde.
Zur Zerstreuung des Personals wurden im Schloss Gemeinschaftsabende samt Saufgelagen organisiert, an deren Sitter nicht teilnahm. Ihm war mittlerweile der Zweck der Anstalt, nämlich die Vergasung von Geisteskranken, bekannt. Sitter wurde hauptsächlich als Begleiter bei Transporten eingesetzt, das eine oder andere Mal musste er aber auch beim Entkleiden der zu vergasenden Menschen helfen oder Etiketten für die Urnen anfertigen.
Franz Sitter konnte all dies nicht mit seinem Gewissen vereinbaren und versuchte von der Anstalt wieder wegzukommen, indem er den ärztlichen Leiter der Heil- und Pflegeanstalt Ybbs, Dr. Lonauer, kontaktierte und seine „sofortige Zurückversetzung“ nach Ybbs forderte. Der NS-Arzt Lonauer hielt Sitter entgegen, dass Hartheim ihm finanzielle Vorteile brächte und Sitter nicht zur Wehrmacht einrücken müsse. Er solle es sich überlegen. Franz Sitter entgegnete, dass es in dieser Angelegenheit nichts zu überlegen gäbe, er würde lieber zur Wehrmacht einrücken. Eine gefährliche Aussage, die mit Verfolgung durch die Geheime Staatspolizei und Einzug an die Front enden hätte können.
Neun Tage später wurde Franz Sitter nach Ybbs zurückversetzt, fand jedoch beim kommissarischen Leiter der Heil- und Pflegeanstalt, Dr. Scherz, kein Verständnis. Eine Verfolgung durch die Geheime Staatspolizei blieb Franz Sitter erspart, er wurde jedoch Anfang Februar 1941, drei Monate nach seiner Rückkehr aus Hartheim, von der Deutschen Wehrmacht zum aktiven Kriegsdienst eingezogen.
Gegen Ende des 2. Weltkrieges geriet Sitter in amerikanische Kriegsgefangenschaft, war bis April 1946 in einem amerikanischen Reserve-Lazarett als Sanitäter tätig, ehe er Anfang Mai 1946 nach Ybbs zurückkehrte und seine Tätigkeit als Pfleger in der Heil- und Pflegeanstalt Ybbs wieder aufnahm.
Zunächst arbeitete Sitter als „Arbeitspfleger“ im Außendienst und rückte im Mai 1952 schließlich zum Oberpfleger auf. 1967 erfolgte aufgrund einer chronischen Erkrankung seine Versetzung in den Ruhestand.
Im Zuge des im Jahr 1947 stattgefundenen Gerichtsverfahrens gegen die ehemaligen Hartheim-Bediensteten wurde auch Franz Sitter vernommen. Das Volksgericht Linz entkräftete die Vermutungen, dass Sitter in die Tötungsverbrechen in Hartheim verstrickt gewesen war und stellte vielmehr klar, dass er die einzige notdienstverpflichtete Pflegeperson gewesen war, die den Dienst verweigert und sich durch den Kriegsdienst aus der „Affäre“ gezogen hätte.
Franz Sitter verstarb im November 1980 in Ybbs, wo er auch beigesetzt wurde. Über die Vorfälle in Hartheim hat er zeitlebens nicht gesprochen, selbst seinen Kindern hatte er so gut wie nichts über diese Zeit erzählt.
Marsalek beschäftigte sich 1995 in seiner Dokumentation über die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen auch mit jenen Menschen, die in Hartheim tätig waren: „Fast alle in Hartheim beschäftigten Personen sind fanatische Nationalsozialisten gewesen oder zumindest Sympathisanten der NS-Rassenlehre. Die Mehrzahl der Beschäftigten hat sich freiwillig nach Hartheim gemeldet. Manche wurden vom Arbeitsamt vermittelt und manche in Heil- und Pflegeanstalten beschäftigten Pfleger wurden dienstverpflichtet. Es gab jedoch auch einzelne Personen, die eine Mitwirkung an diesem Massenmord verweigert haben. So z. B. der Pfleger Franz Sitter, der sich weigerte in Hartheim tätig zu sein und nach einige Tagen Arbeit in Hartheim, das Schloss verlassen konnte, freilich mit der Konsequenz, dass dieser wenige Wochen später zur Wehrmacht einberufen wurde.“
Das Beispiel Sitters zeigt auf, dass es gelingen konnte, aus Hartheim auszusteigen. Er war der einzige von insgesamt acht Pflegerinnen und drei Pflegern gewesen, der den „Dienst“ aus Gewissensgründen verweigert hatte.
Vgl. Fürstler, Gerhard; Malina, Peter: Historische Pflegeforschung. Österreichische Personen aus der Zeit des Nationalsozialismus, Teil III. Der psychiatrische Krankenpfleger aus Ybbs/Donau: Franz Sitter, In: Österreichische Pflegezeitschrift 5/03, S. 20 ff.
Franz Sitter https://hriesop.beepworld.de/sin.htm
Auf Schloss Hartheim bei Alkoven wurde „Euthanasie" an Menschen betrieben, die in der Diktion der NS-Volksgesundheitslehre als „lebensunwert" eingestuft waren. Zwischen 1940 und 1944 wurden in Harthei https://www.linz.at/geschichte/de/38099_38146.asp