- in memoriam 1938
Es gibt Fragen im Leben, die sehr einfach klingen, es jedoch bei genauer Betrachtung nicht im Mindesten sind. Nicht allein die Beantwortung dieser fundamentalen Fragen erweist sich als höchst schwierig, es ist auch schwer, die Frage selbst zu verstehen.
Die Frage nach den Möglichkeiten humaner Lebensführung gehört zu jenen schwer zu beantwortenden existentiellen Fragen.
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Die Frage, wie man sein Leben human führen könne impliziert, dass Leben etwas Planbares sei, etwas zu Führendes. Ist das jedoch so? John Lennon äußerte sich zu dieser Thematik einst wie folgt: „Leben ist das, was passiert, während du eifrig dabei bist, andere Pläne zu machen.“
Das Leben - ein Balanceakt zwischen Glück und Unglück, Begeisterung und Frustration, Erfolg und Versagen, Leidenschaft und Schmerz, Genuss und Verzicht - ist es, das dem Menschen die Fragen stellt, der Mensch der Befragte, der dem Leben zu antworten hat.
Unklar ist lediglich das „Wie“, denn das Leben spielt dem Menschen nicht nur unverhofft Möglichkeiten zu, es stiehlt ihm diese auch auf hinterhältige Weise, sodass der Mensch sich nicht als Führender, sondern als Geführter erlebt.
Wie man sein Leben human führen kann, zeigen Menschen wie Albert Schweitzer, Mahatma Ghandi, Dag Hammarskjöld, Abraham Lincoln, Nelson Mandela und Viktor Frankl, die im Großen gewirkt haben.
Viktor Frankl, der als Holocaust-Überlebender vier verschiedener Konzentrationslager den nationalsozialistischen Terror in seinem ganzen Ausmaß erfahren hat, überlebte nicht allein aufgrund von Glück, sondern weil er für etwas gelebt hat. Frankl entdeckte in der Zeit seiner Internierung, dass die im Menschen innewohnende geistige Dimension die Möglichkeit geben würde, auch in einer derartigen Situation, unabhängig davon, wie schlecht es einem Menschen gehe, einen kleinen Teil Entscheidungsfreiheit zu behalten, beispielsweise das Brot mit anderen zu teilen. Diese Handlungsentscheidung ist etwas spezifisch Humanes.
„Erst unter den Hammerschlägen des Schicksals, in der Weißglut des Leidens an ihm, gewinnt das Leben Forum und Gestalt.“ (V. Frankl)
Viktor Frankls Umgang mit dem Erlebten
Nach der, mittlerweile mehr als 73 Jahre zurückliegenden Befreiung durch US-amerikanische Truppen, tauschte Viktor Frankl die Häftlingskleidung gegen den Doktorkittel. Er kümmerte sich unabhängig vom früheren Parteibuch um seine Patienten, ließ sich nicht von seinen dramatischen Erlebnissen in den unterschiedlichen Konzentrationslagern gefangen nehmen. Statt anzuklagen predigte der Psychiater Versöhnung!
Auch argumentierte Frankl immer gegen eine „Kollektivschuld“ der deutschen Bevölkerung.
Nachstehende Rede hielt Frankl am 10. März 1988 vor 35.000 Zuhörern auf dem Wiener Rathausplatz im Rahmen einer Gedenkkundgebung anlässlich des Hitler-Einmarsches vor 50 Jahren. (In: Viktor E. Frankl, Logotherapie und Existenzanalyse, Texte aus sechs Jahrzehnten, 3. Auflage, Verlag Beltz 2010)
In memoriam 1938
„Meine Damen und Herren, ich hoffe auf Ihr Verständnis, wenn ich Sie bitte, zu dieser Stunde des Gedenkens gemeinsam mit mir zu gedenken: meines Vaters – er ist im Lager Theresienstadt zugrunde gegangen; meines Bruders – er ist im Lager Auschwitz umgekommen; meiner Mutter – sie ist in der Gaskammer von Auschwitz ums Leben gekommen; und meiner ersten Frau - sie hat im Lager Bergen Belsen ihr Leben lassen müssen. Und doch muss ich Sie darum bitten, von mir kein Wort des Hasses zu erwarten. Wen sollte ich auch hassen? Ich kenne ja nur die Opfer, aber nicht die Täter, zumindest kenne ich sie nicht persönlich – und ich lehne es ab, jemanden kollektiv schuldig zu sprechen. Eine Kollektivschuld gibt es nämlich nicht, und ich sage das nicht erst heute, sondern ich hab‘ das vom ersten Tag an gesagt, an dem ich aus meinem letzten Konzentrationslager befreit wurde – und zu der Zeit hat man sich wahrlich nicht beliebt gemacht, wenn man es gewagt hat, öffentlich gegen die Kollektivschuld Stellung zu nehmen.
Schuld kann jedenfalls nur persönliche Schuld sein – die Schuld an etwas, das ich selbst getan habe – oder vielleicht zu tun unterlassen habe! Aber ich kann nicht schuld sein an etwas, das andere Leute getan haben, und seien es auch die Eltern oder die Großeltern. Und den Österreichern, die heute zwischen 0 und 50 Jahren alt sind, in diesem Sinne eine sozusagen »rückwirkende Kollektivschuld« einzureden, halte ich für ein Verbrechen und für einen Wahnsinn – oder, um es psychiatrisch zu formulieren, es wäre ein Verbrechen, würde es sich nicht um einen Fall von Wahnsinn handeln. Und um einen Rückfall in die sogenannte Sippenhaftung der Nazis! Und ich denke, gerade die Opfer ehemaliger kollektiver Verfolgung sollten die ersten sein, die mir da zustimmen. Es wäre denn, Sie legen Wert darauf, die jungen Leute den alten Nazis oder den Neonazis in die Arme zu treiben!
Ich komme zurück auf meine Befreiung aus dem Konzentrationslager: Ich bin dann mit dem ersten möglichen (wenn auch nur illegal möglichen) Transport auf einem LKW nach Wien zurückgekehrt. Inzwischen hat man mich 63mal nach Amerika geholt; aber jedes Mal bin ich wieder nach Österreich zurückgekommen. Nicht weil mich die Österreicher so geliebt hätten; sondern umgekehrt, weil ich Österreich so geliebt habe, und bekanntlich beruht Liebe nicht immer auf Gegenseitigkeit. Nun, wann immer ich in Amerika bin, fragen mich die Amerikaner: »Warum sind Sie, Herr Frankl, nicht schon vor dem Krieg zu uns gekommen? Sie hätten sich doch viel ersparen können. « Und ich muss ihnen dann erklären, dass ich jahrelang auf ein Visum warten musste, und wie es dann endlich soweit war, da war es auch schon zu spät, denn ich hab‘ es einfach nicht über mich gebracht, mitten im Krieg meine alten Eltern ihrem Schicksal zu überlassen. Und dann fragen mich die Amerikaner weiter: »Und warum sind Sie dann nicht wenigstens nach dem Krieg zu uns gekommen? Hatten Ihnen die Wiener zu wenig angetan, Ihnen und den Ihren? « »Nun«, sag‘ ich den Leuten, »in Wien gab es zum Beispiel eine katholische Baronin, die unter Lebensgefahr eine Kusine von mir als »U-Boot« versteckt gehalten und ihr so das Leben gerettet hat. Und dann gab es in Wien einen sozialistischen Rechtsanwalt – der hat mir – ebenfalls sich selbst gefährdend – Lebensmittel zugesteckt, wann immer er nur konnte.« Wissen Sie, wer das war? Der Bruno Pittermann, nachmaliger Vize-Kanzler von Österreich. »Nun«, frag‘ ich die Amerikaner weiter, »warum hätte ich in eine solche Stadt, in der es solche Menschen gab, nicht zurückkehren sollen?«
Meine Damen und Herren, ich höre Sie sagen: »Das ist ja alles gut und schön; aber das waren ja nur die Ausnahmen – Ausnahmen von der Regel, und in der Regel waren die Leute doch nur Opportunisten – sie hätten Widerstand leisten müssen.« Meine Damen und Herren, Sie haben recht; aber bedenken Sie, Widerstand setzt doch Heroismus voraus, und Heroismus darf man meiner Ansicht nach nur von einem einzigen Menschen verlangen, und das ist – man selbst!
Und wer da sagt, man hätte sich lieber einsperren lassen sollen als dass man sich mit den Nazis arrangiert, der dürfte das eigentlich nur dann sagen, wenn er für seine eigene Person unter Beweis gestellt hat, dass er es vorgezogen hatte, sich ins Konzentrationslager stecken zu lassen, und siehe da: diejenigen, die in den Konzentrationslagern waren, urteilen im Allgemeinen viel milder über die Opportunisten, milder als diejenigen, die sich währenddessen im Ausland aufhielten. Ganz zu schweigen von der jungen Generation – wie soll die sich vorstellen können, wie die Leute gebangt und gezittert haben um ihre Freiheit, ja um ihr Leben und nicht zuletzt um das Schicksal ihrer Familie, für die sie immerhin die Verantwortung getragen haben.
Nur umso mehr müssen wir diejenigen bewundern, die es gewagt haben, sich der Widerstandsbewegung anzuschließen. (Ich gedenke da meines Freundes Hubert Gsur, der wegen Wehrmachtszersetzung zum Tod verurteilt und mit dem Fallbeil hingerichtet wurde.) Der Nationalsozialismus hat den Rassenwahn aufgebracht. In Wirklichkeit gibt es aber nur zwei Menschenrassen, nämlich die »Rasse« der anständigen Menschen und die »Rasse« der unanständigen Menschen. Und die »Rassentrennung« verläuft quer durch alle Nationen und innerhalb jeder einzelnen Nation quer durch alle Parteien.
Sogar in den Konzentrationslagern ist man hie und da auf einen halbwegs anständigen Kerl unter den SS-Männern gestoßen – genauso wie auf den einen oder anderen Falotten und Halunken unter den Häftlingen. Ganz zu schweigen von den Capos. Dass die anständigen Menschen in der Minorität gewesen sind und voraussichtlich auch bleiben werden – damit müssen wir uns abfinden. Gefahr droht erst dann, wenn ein politisches System die Unanständigen, also die negative Auslese einer Nation, an die Oberfläche schwemmt. Dagegen ist aber keine Nation gefeit, und in diesem Sinne ist auch jede Nation grundsätzlich holocaustfähig! Dafür sprechen nicht zuletzt die aufsehenerregenden Ergebnisse wissenschaftlicher Forschungen auf dem Gebiete der Psychologie – Forschungen, die wir einem Amerikaner verdanken. Sie sind unter der Bezeichnung »Milgram-Experiment« in die Geschichte eingegangen. Wollen wir nun aus alledem die politischen Konsequenzen ziehen, dann sollten wir davon ausgehen, dass es im Grunde nur zwei Stile von Politik gibt oder vielleicht besser gesagt nur zwei Typen von Politikern: die einen sind nämlich diejenigen, die da glauben, der Zweck heiligt die Mittel, und zwar jedes Mittel. Während die anderen Politiker sehr wohl wissen, dass es auch Mittel gibt, die selbst den heiligsten Zweck zu entweihen vermöchten. Und es ist dieser Typus von Politikern, dem ich zutraue, trotz des Lärms um das Jahr 1988 die Stimme der Vernunft zu hören und die Forderung des Tages, um nicht zu sagen des Jahrestages, darin zu sehen, dass alle, die guten Willens sind, einander die Hände entgegenstrecken, hinweg über alle Gräber und hinweg über alle Gräben. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.“ (V. Frankl, 1988)
Die großen Gestalten der Humanität, welche äußere Lebenssituationen bravourös bewältigt haben, verschaffen uns eine Idee in das Prinzip Humanität, zeigen auf, worum es im Grunde geht, nämlich menschlich und immer menschlicher zu werden.
Wie das geht, müssen die Individuen jedoch für sich selbst entdecken.
Die meist noch wichtigeren Gestalten als die großen der Humanität sind jene, die im Kleinen wirken, beispielsweise der Freund, der in der größten Verzweiflung getröstet, der Lehrer, der mit einem lobenden Satz Hoffnung gemacht hat.
Die Verwendung des Begriffs „Humanität“ allein bewirkt jedoch noch keine Humanität! - Die Idee muss „Herrschaft über die Herzen“ gewinnen!
„Der Mensch ist das Wesen, das immer entscheidet. Und was entscheidet es? Was es im nächsten Augenblick sein wird.“ (V. Frankl)