Die Mehrdeutigkeit des Titels ist intendiert: es geht um ein ebenso altes wie ewig neues Thema: Macht und Religion, Religion und Sinn, Sinn und Macht.

Es geht nicht um „ewige“ Wahrheiten und Weisheiten. Und auch nicht um Religionsbeschimpfung – wenngleich sich jede totalitäre Ideologie auch Kritik stellen muss.

Es geht um die Erzählung der Geschichte des Autors Dr. Tarek Eltayeb, geb. 1959 in Kairo, seit 1984 in Wien lebend. Um seine persönliche Sicht und sein Verständnis.

Über das Leben in und zwischen islamischen und christlichen Welten

Tarek Eltayeb wurde Ende der 1950er Jahre in Kairo geboren und lebte 25 Jahre in einem Stadtteil innerhalb einer großen sudanesischen Gemeinde unter – sowohl der islamischen als auch der christlichen Religion angehörenden – Sudanesen und Ägyptern. Tarek wurde in eine muslimische Familie hineingeboren und im Alter von vier Jahren in eine Kuttab (Koranschule für Vier- bis Sechsjährige) geschickt, wo er Koransuren auswendig zu lernen hatte, der lehrende Scheich, ein grober, strenger Unterweisender, erklärte die Bedeutung der einzelnen Verse. Der einzige Ausweg den Schlägen des Scheichs zu entkommen bestand darin, seinen Anweisungen zu folgen und die Suren brav auswendig zu lernen. Die Methode, Dinge auswendig zu lernen, sie als gegeben hinzunehmen und nicht zu hinterfragen, begleitete Tarek unabhängig vom Unterrichtsfach durch seine ganze Schulzeit hindurch.

Zuhören und zuhören und zuhören …

„In der Koranschule

las uns der Scheich vor –

im Türkensitz,

sich in den Hüften wiegend,

in einem Singsang rezitierend,

und seine Abaya wogte dabei

hin und her.

In der Schule

las uns der Lehrer vor –

stehend,

er wie ein Tiger im Käfig,

wir wie das Vieh im Stall.

Der, der uns jetzt vorliest,

sitzt,

versteht nichts vom Rezitieren

und bewegt sich nicht.

Wir begreifen nichts,

er begreift nichts.

Wie sind immer gesessen,

haben zugehört und zugehört.

Wir haben nie gewagt,

uns das Vorlesen zuzutrauen.

Weißes Haar kriecht über unsere Köpfe,

und wir hören noch immer zu

und wiederholen das Vorgelesene laut.“

Tarek Eltayeb, Wien, 1996

Im islamischen Religionsunterricht hat Tarek über die christliche Religion gelernt. In seiner Klasse gab es einen Ahmed, einen Mohamed, ein Aisha, eine Fatma neben einem Mikhail, einem Boules, einer Linda und einer Mary. Der einzige Unterschied in den Kindern bestand darin, dass einige von ihnen am inneren Handgelenk ein eintätowiertes blaues Kreuz als Zeichen ihrer Zugehörigkeit zum Christentum hatten. Zu Zeiten des islamischen Religionsunterrichtes mussten Mikhail, Boules, Linda und Mary in eine andere Klasse gehen. Was „die Anderen“ dort gelernt haben, blieb im Verborgenen.

Die Mutter von Tarek färbte zu Ostern Eier und die Familie feierte mit den Kopten das christliche Fest. Am Ende des Fastenmonats oder nach der Pilgerfahrt, zu den Feiertagen, erhielten auch die Kinder der koptischen Nachbarn neue Kleidung. Die christlichen Nachbarn kamen an diesen Feiertagen um Glückwünsche zu überbringen, Tareks Eltern wünschten umgekehrt den Nachbarn zu Weihnachten und Ostern Glück. Gegenseitige Besuche gab es auch zu Hochzeiten oder Begräbnissen. Im Haus, in dem Tarek aufwuchs, lebten drei muslimische und zwei koptische Familien, bei den meisten Nachbarn handelte es sich um Kopten. An Freitagen waren die Mikrofone der Moscheen zu hören, sonntags erklangen die Glocken und ertönte Kirchengesang.

Tarek beschreibt mit diesen Beispielen die als Kind erlebte Atmosphäre von Toleranz und gegenseitigem Respekt.

In den 70er Jahren begegnete Tarek Eltayeb erstmalig bewusst Fundamentalisten, die ein „Zurück zu den Wurzeln“ und „den eigenen Traditionen“ forderten. Zu dieser Zeit war die Gamacat at-Takrif wa-I-Higra aufgetreten, die als „Gruppe der Anklage wegen des Unglaubens und der Auswanderung“ angesehen werden kann. Neben dieser Gruppe propagierten zahlreiche weitere Gruppierungen unterschiedlichster Richtungen ihren Weg als Lösung für existenzielle Sorgen der Menschheit. In der Hoffnung einen Ausweg aus ihrer miesen Situation des Großteils der Bevölkerung, resultierend aus der Verschlechterung der wirtschaftlichen und sozialen Lage, zu finden, schlossen sich einige diesen unterschiedlichen Gruppen an. Tarek erlebte als Zeitzeuge die damals immer stärker werdende Kluft der Bevölkerungsschichten. Während die Mittelschicht abrutschte, wurde die Oberschicht auf Kosten der restlichen Bevölkerung immer reicher. Bis heute driften die Bevölkerungsschichten immer weiter auseinander.

Ägypten hat im Verlauf der Geschichte viele Fremdherrschaften und die unterschiedlichsten Formen der Kolonialisierung erlebt, wobei keine einzige Herrschaft zu einer Besserung der Lebensverhältnisse des Volkes beigetragen hat, zumindest nicht auf lange Sicht. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn die Menschen angesichts ihrer Lebensverhältnisse im Glauben Zuflucht suchen, auf ein besseres Leben im Jenseits hoffen und sich Gruppierungen anschließen, die Versprechen abgeben, wie beispielsweise eine besser medizinische Versorgung der Bevölkerung, Ausbildungsmöglichkeiten und anderes mehr. Beobachtbar war, dass diese Gruppierungen die Politlandschaft, insbesondere nach Krieg und Niederlage, ausnützen und den Menschen das Paradies im Jenseits versprachen. Ihnen wurde klargemacht, dass sie mit Rückwärtsschritten vorwärtsgehen könnten.

Während der Studienjahre wurde Tarek klar, dass immer dann von der Regierung gegen die Opposition eingeschritten werden würde, wenn diese zu mächtig zu werden drohte und zwar indem sie die Gruppierungen gegeneinander ausspielte. Wurden Angehörige linksgerichtete Gruppen zu stark, so wurden sie eingesperrt und die religiös-traditionalistischen geduldet und umgekehrt. Politisches Kalkül lag diesem Umgang zugrunde. Tatsächlich teilten und teilen sich die politische und die religiöse Elite die Landesmacht, da die Politik zur Absegnung ihrer Entscheidungen auf die Religion angewesen ist. Ohne den Segen der Religion ist kein Eingriff ins zivile Leben der Bürge möglich. Umgekehrt überließen und überlassen die politischen Kräfte der religiösen Elite die Entscheidung in Glaubensfragen und Fragen der religiösen Praktiken. Der Bürger im Spannungsfeld von politischer und religiöser Macht – eingespannt wie in einen Schraubstock. Der Verlust von individuellem politischem und religiösem Bewusstsein und das Verlorengehen von Toleranz, die zu leeren Worten wird, gehen Hand in Hand.

Mitte der 1980er Jahre kam Tarek Eltayeb nach Zentraleuropa und musste sich zunächst von seinen Fesseln der Unkenntnis der deutschen Sprache befreien, es dauerte, bis er Ironie, Spott von ernstem Ton unterscheiden konnte. Als er schließlich entdeckte, dass vieles anders gemeint war als es auf den ersten Blick anmutete, war er verwundert über die Berichte über den Islam in den Medien, – der Islam als unberechenbares Monster und Albtraum für die westlichen Gesellschaften –, in denen landesspezifische Traditionen mit Religion vermischt wurden und in denen wenig darauf eingegangen wurde, wie der Islam im Kampf gegen den Kolonialismus zu politischen Zwecken oder für die Machterhaltung im Land missbraucht werden würde.

Spezifische Entwicklungen in einem Land, welche auf ökonomische, soziale, politische und historische Kriterien zurückzuführen sind, würden laut Tarek Eltayeb in den Medien simplifizierend als Folge der Islamisierung dargestellt.

Nach dem 11. September 2001 wurde die Welt in eine „gute“ und eine „böse“ geteilt – auf der Weltkarte wurden auf einfache Art und Weise klare Grenzlinien aufgrund eines Mixes von Religion, Politik und Geografie gezogen und der Westen als moderne, von den Interessen des Kapitalismus und Materialismus geprägte Industriegesellschaft, in dem Religion bzw. Kirche keine Macht habe, da sie über keine materiellen Güter verfügen würde, dargestellt. Im Westen hilft die Zugehörigkeit zur Religion nicht, nur die zu einer politischen Partei. In ärmeren Ländern hingegen bleibt den Menschen nichts Anderes als sich ihrem Glauben zuzuwenden, um auf ein menschenwürdigeres Leben im Jenseits zu hoffen. Übersättigung in der einen Welt, Ausgehungert-Sein in der anderen bringt Menschen dazu, sich religiösen Gruppen anzuschließen, die in beiden Welten extrem und radikal sind und auf beiden Seiten Menschen für bestimmte Zwecke benützen.

Mittlerweile sind wir am Beginn des 21. Jahrhunderts angelangt. Tarek hat die Hälfte seines Lebens in einer islamischen Gesellschaft, die andere in einer christlichen verbracht, welche sich beide aus den unterschiedlichsten Facetten zusammensetzen und Religion eine wichtige Rolle spielt, jedoch nicht die einzige.

Tarek Eltayeb stellt fest, dass ihm oft nachgesagt wird, dass er kein echter Muslim sein, weil er nicht fastet, nicht in die Moschee geht. Er ist kein echter Sudanese, weil er den sudanesischen Dialekt nicht beherrscht. Er ist kein echter Ägypter, weil er sudanesische Vorfahren hat. Er ist kein echter Afrikaner, weil er Araber ist und gleichzeitig kein echter Araber, weil er Afrikaner ist etc. Eine unbedingte Einordnung in eine Schublade ist nicht möglich.

„Mein Schicksal in Gottestagen

Ich teile die Gottestage,

in sonnige

und sonnenlose Tage.

An den sonnigen bin ich heiter und vergnügt.

Doch nun sind schon seit Monaten

die anderen Tage.

Keine Maske verhilft mir

zu einer Illusion,

keine Erinnerung

zu einer Nachahmung,

nicht einmal zu einem Traum.

Die Tage, an denen ich schattenlos bin,

wiederholen sich

und wiederholen sich,

bis ich genug habe

von meinem Schicksal

an diesen Gottestagen.

Nun teile ich die Gottestage

in normale und normale Tage.

Allmählich gewöhne ich mich daran,

in den einen so zu sein

wie in den anderen.“

Eltayeb, Tarek (2002): Aus dem Teppich meiner Schatten, Edition Selene.

Tarek Eltayeb vertritt die Auffassung, dass Religion Privatsache ist und der Mensch überall das Recht zur Religionsausübung hat. Er wünscht sich einen respektvollen Umgang mit jedem Gläubigen unabhängig von dessen Religion. Nicht mehr und nicht weniger.

Wogegen er sich ausspricht ist, dass Menschen aus der Distanz heraus Dinge betrachten und dass jemand vermeint, er kenne beide Seiten besser und habe den Überblick, denn so könne ein Dialog nie Erfolg haben.

Eltayeb, Tarek, In: Elsner, Helmut (Hrsg.): Macht Religion Sinn. Wien: Uerberreuter, S. 9 ff.

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Kontroverse Betrachtungen

Tarek Eltayeb hat seine Kindertage in Kairo in einer von Toleranz geprägten Atmosphäre verbracht.

Sein Text ist sachlich, und dennoch gefühlvoll, er kommt ohne Schuldzuweisungen aus.

Irritierend ist die Nüchternheit im Zusammenhang mit der Erzählung der ersten Begegnung mit Fundamentalisten, auch die Erwähnung von Nine Eleven wirkt nüchtern aufgesetzt. Herr Eltayeb urteilt nicht, versucht Hintergründe einfach zu erklären, distanziert sich jedoch auch nicht eindeutig von terroristischen Aktivitäten.

Er plädiert für Toleranz und Eintreten in den Dialog. Er appelliert an die Vernunft. Es scheint, als würde er sich die erlebte Idylle der Kindertage der 1960er Jahre in Kairo zurückwünschen, wo Kopten und Muslime sich gegenseitig wertschätzten, respektierten und einander freundlich und herzlich begegneten.

Stellt sich die Frage, inwieweit der verständliche Wunsch bzw. die Sehnsucht, dass die von gegenseitiger Toleranz und Akzeptanz der Religionen geprägte friedvolle Atmosphäre der Kindheitstage in Kairo auch im Westen erreichbar ist/wäre, wenn die Religionen bzw. die unterschiedlich Gläubigen in einen Dialog eintreten und mehr Toleranz zeigen würden, nicht kindlich-naiv, um nicht brandgefährlich zu sagen, ist?

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