Moralisieren oder Probleme lösen?

Nirgendwo sonst prallen Meinungen so ungebremst und heftig aufeinander, wie es aktuell in der Flüchtlingsfrage passiert.

Da gibt es die einen, die sich vehement dagegen wehren, noch mehr Menschen nach Europa einzulassen, weil sie aufgrund demografischer Entwicklungen eine „Umvolkung“ und damit einhergehend den Untergang der autochthonen Kultur befürchten. Es gibt die, die das Ende des gut ausgebauten Sozialstaates befürchten, weil eine weitere Einwanderung von kulturfremden, schlecht alphabetisierten und in großer Zahl schwer vermittelbaren Arbeitskräften zu einer überbordenden Beanspruchung der Sozialsysteme führe. Dann gibt es die, die die Befürchtungen hegen, eine fundamentalistische Islamisierung würde mit unseren Vorstellungen eines liberalen Staates, ja sogar mit einer Demokratie an sich, unvereinbar sein. Dann gibt es auch die, die aus „Prinzip“ keine „Fremden“ im Land wollen. Dann gibt es die, die einfach „Angst“ vor Fremden haben, und die, die einfach ihre „Ruhe“ haben wollen, die gibt es auch. Und dann gibt es welche, die hier nicht genannt sind, aber auch keine weitere Einwanderung wollen.

Und dann gibt es welche, die sich weigern, die nach Europa drängenden Menschen als Flüchtlinge oder gar als Asylsuchende zu bezeichnen, die ihnen vielmehr die Bezeichnung Immigranten bzw. Wirtschaftsflüchtlinge zuweisen.

Und dann gibt es die, die unbedingt helfen wollen. Die sich solidarisch fühlen, mit den Fremden, mit den Armen, den Kriegsflüchtlingen, den Wirtschaftsflüchtlingen, den Verlassenen, den Vertriebenen und diese Solidarität auch von allen anderen verlangen und enttäuscht sind, wenn sich andere weigern, dieselbe Empathie zu zeigen. Und dann sprechen sie von Missachtung der Menschenrechte, von eklatanter Aushebelung der Genfer Flüchtlingskonvention, von andauernder Missachtung europäischer Werte, von Mord im Mittelmeer und dergleichen mehr und fühlen sich plötzlich nicht mehr „verstanden“ in ihrer Heimat und sprechen davon „auswandern“ zu wollen in ein anderes Land.

Und müssen dann nach genauerer Prüfung oft erkennen, dass das andere Land, in das sie einwandern wollen, noch weniger ihren Vorstellungen von freier Einwanderung entspricht. Das lässt sie dann noch verzweifelter versuchen, ihre Vorstellungen von „freier Niederlassung“ Geltung zu verschaffen.

Gesinnungsethiker bekämpfen Verantwortungsethiker, Moralisten verdammen Rationalisten! Und alle haben – zumindest ein bisschen – recht!

Jeder Seite wäre das Liebste, der jeweils anderen wäre es überhaupt untersagt, ihre Meinung zu äußern. Ein Vorwurf „Hetze“ zu betreiben jagt den anderen. Vielen, denen gestern die Meinungsvielfalt, die Meinungsfreiheit noch als unantastbares und wertvollstes Gut der Demokratie galt, geht die Meinungsfreiheit in den sogenannten „sozialen Medien“ heute schon viel zu weit – vor allem dann, wenn die geäußerte Meinung ihrer widerspricht.

Argumente werden vielfach nicht mehr rational geprüft, sondern nur noch moralisch eingeordnet.

Entsprechen sie den eigenen moralischen Ansprüchen, gibt es Zustimmung, sonst wird mit Entrüstung reagiert. Werden Argumente von der „falschen Seite“ vorgetragen wird, verbietet man sich, sie anzuhören.

Dieser hier geschilderte Eindruck – der nicht von allen geteilt werden muss – hat mich veranlasst, wieder einmal bei einem meiner Lieblingsautoren nachzulesen, bei John Stuart Mill. In seinem Essay „Über die Freiheit“ („On Liberty“), längst ein Klassiker der pol. Philosophie, finden sich immer wieder Sätze, die, seit ihrer erstmaligen Veröffentlichung im Jahre 1859 nichts , aber schon gar nichts, an Aktualität eingebüßt haben. Eins zu eins sind sie auf unsere Situation anwendbar.

„Die Urteilskraft ist dem Menschen gegeben, damit er von ihr Gebrauch mache. Weil sie irrig angewandt werden kann, lässt sich doch wohl nicht behaupten, dass sie überhaupt nicht angewandt werden soll.“ (J.S. Mill, S.33)

Wenn die ganze Menschheit weniger Einem gleicher Meinung wäre und dieser Eine entgegengesetzter Meinung, so wäre die ganze Menschheit nicht mehr berechtigt, diesen Einen mundtot zu machen, als er, wenn er die Macht dazu hätte, berechtigt wäre, die Menschheit mundtot zu machen. (J.S.Mill, S.30f)

Ich habe nicht selten den Eindruck, dass die Bereitschaft sich mit „unliebsamen“ – also der eigenen einmal gefassten Meinung widersprechenden – Meinungen rational auseinanderzusetzen, wenig ausgeprägt ist. Wenn diese Meinung zudem auch noch von einem „politischen Gegner“ vorgetragen wird, scheint das Zuhören noch schwerer zu sein. Besonders schwierig wird es vor allem dann, wenn man sich moralisch im Recht fühlt, und die Person, die die Meinung als die ihre präsentiert, als moralisch minderwertig angesehen wird. Was in der Regel meist für alle politischen Gegner gilt. Dabei ist es unwesentlich, ob dieser Person die moralische Minderwertigkeit zurecht zugeschrieben wird oder nicht.

Diese Eigenschaft, so viel sei bedauernd festgestellt, vermindert aber unsere Fähigkeit uns als Mensch weiterzuentwickeln und erhöhte Lösungskompetenzen zu entwerfen. Wenn wir uns weigern, politisch andersdenkenden Menschen halbwegs unvoreingenommen zuzuhören, und unsere eigenen politischen Überzeugungen zu „dogmatischen Glaubensätzen“ hochstilisieren, katapultieren wir uns in eine ähnlich Situation, in der sich der Islam seit Jahrhunderten befindet.

„Selbst die unduldsamste der Kirchen, die römisch-katholische, hört bei einer Heiligsprechung geduldig den „Teufelsadvokaten“ an. Der heiligste der Männer, scheint es, kann nicht zu den späten Ehren kommen, bevor nicht alles, was der Teufel wider ihn vorzubringen weiß, bekannt und erwogen wurde.“ (J.S. Mill, S.36)

In diesem Zusammenhang sei uns in Erinnerung gerufen, dass einst ein Herr namens Sokrates lebte, der von seinen Zeitgenossen als Gotteslästerer und Jugendverderber bezeichnet und zum Tode verurteilt wurde, nur weil seine Richter verabsäumten, ihr Urteil einer unvoreingenommenen Prüfung zu unterziehen.

Heute wird Sokrates als einer der vorzüglichsten seiner Zunft betrachtet.

Auch für uns gilt: Wir können nichts mit eindeutiger Sicherheit wissen. Aber wir können von Tag zu Tag „gescheiter“ werden.

Wofür ich hier leidenschaftlich, wenngleich vielleicht unvollkommen, zu plädieren versuche ist, sich das Faktum der eigenen Voreingenommenheit immer wieder bewusst zu machen und sich zu zwingen, selbst das unliebsamste Argument hinsichtlich seiner Plausibilität und hinsichtlich seines Wahrheitsgehalts zu überprüfen – und zwar unabhängig davon, von wem immer es vorgebracht wird.

Das auch dann, wenn die offensichtliche Gefahr besteht, dass es dem oberflächlichen Betrachter als politischer Wankelmut erscheint. Es wird sich am Ende demjenigen, der sich die Mühe macht, der Sache auf den Grund zu gehen, als durchgängige „Rote Linie der Beständigkeit“ zeigen. Das Urteil desjenigen aber, der sich die Mühe der tiefer gehenden Analyse zu ersparen können glaubt, sollte uns – wenn schon nicht gleichgültig bleiben – so wenigstens nicht aus eigener Unaufgeregtheit reißen.

So hätten wir wenigstens etwas von Sokrates gelernt.

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gloriaviennae

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Frank und frei

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Markus Andel

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