Ich möchte heute einen Gedanken eines wichtigen spanischen Philosophen der Neuzeit durch ein Zitat in Erinnerung bringen; ein Gedanke, den ich dem Essay-Band „Signale unserer Zeit“ entnommen habe.
(José Ortega y Gasset; Bild Quelle: Wikipedia,gemeinfrei)
"Man vergesse nicht, daß der entscheidende Faktor in der Geschichte eines Volkes der Durchschnittsmensch ist. […] Die Geschichte ist ohne Gnade die Herrschaft des Mittelmäßigen. Der größte Genius zerschellt an der unbegrenzten Gewalt des Gewöhnlichen. Der Planet ist offenbar geschaffen, damit der Durchschnittsmensch auf ewig herrscht. Darum hängt alles davon ab, daß das mittlere Niveau so hoch wie möglich ist. Und was die Völker groß macht, sind in erster Linie nicht ihre großen Männer, es ist die Höhe der unzähligen Mittelmäßigen. Es ist klar, daß sich das mittlere Niveau niemals heben wird ohne das Vorhandensein von überlegenen Wesen, von Vorbildern, welche die träge Masse hinaufziehen. Darum ist das Eingreifen der Großen nur sekundär und mittelbar. Die historische Realität sind sie nicht, und es kann geschehen, daß ein Volk geniale Einzelne besitzt, ohne daß darum der historische Wert der Nation größer würde. Das tritt immer ein, wenn die Masse sich diesen Vorbildern nicht fügt, ihnen nicht folgt und sich nicht vervollkommnet."
(S.131 f.)
„Sätze“, die überdauern, sind meist dermaßen vielgestaltig interpretierbar, dass sie jedermann als Beweis für die Richtigkeit gerade seiner Ansicht dienlich sein können. (Meiner Meinung nach ist das auch der Grund, warum die sogenannten „Heiligen Schriften“ bis heute überdauerten.) Dies könnte natürlich auch für dieses Zitat oben gelten. Die Frage ist immer, welche Komponenten dieses kurzen Auszuges, den ich dem Abschnitt „Wesenszüge der Liebe“ entnahm, man besonders zu betonen gedenkt.
Diejenigen, die den Gedanken des „Elitären“ besonders schätzen, werden diesen Teil im Text hervorheben wollen, der davon spricht, dass der Genius es ist, der das „Niedere“ hinaufzieht; jene, die für „straffe Führung“ plädieren, werden genüsslich auf die Stelle des „Fügens und Folgens“ deuten und im Autor einen Vorboten kommender Diktaturen zu erkennen glauben; andere, die vielleicht mehr das „Kollektive“ schätzen, werden meinen, dass darin das Lob des „Mittelmäßigen“ oder auch des Sozialismus gesungen werde, und dann wird es vielleicht noch eine Gruppe geben, die immer schon meinte, dass es um „Vervollkommnung“ im Sinne von (staatlicher) Erziehung gehe; aber auch diejenigen, die eher zu „anarchistischer Gesinnung“ tendieren, finden ihr Futter, indem sie den „Genius“ notgedrungen an der Macht der Realität zerschellen sehen.
Ortega y Gasset, dessen Gedanken über die Bedeutung der Massen – ohne jetzt eine Gleichsetzung vornehmen zu wollen – u.a. auch von Elias Canetti (Masse und Macht) aufgenommen und weitergeführt worden zu sein scheinen, sah das Hauptproblem seiner (unserer) Zeit in der Vermassung der Gesellschaft. Die Masse galt für ihn als historisch entwurzelt und dadurch orientierungslos, und das mache sie, so führte er aus, in besonderem Maße anfällig für Ideen und Ideologien, wie sie sich aus seiner Sicht u. a. in Faschismus und Kommunismus manifestieren. Als sein wohl wichtigstes Buch gilt „Der Aufstand der Massen“. Den von ihm vielfach verwendeten Begriff der „Eliten“ findet man natürlich auch bei anderen Philosophen, beispielsweise bei Robert Michels, dessen Arbeiten anfangs in Deutschland weniger Widerhall fanden, die aber später umso mehr im faschistischen Italien unter Mussolini geschätzt wurden. Weitere interessante Anknüpfungspunkte, die sich ergeben würden, (Martin Heidegger, Sigmund Freud, Wilhelm Reich u.a.) lasse ich der Kürze dieses Eintrags wegen unberücksichtigt.
Den Autor kann ich jedermann ans Herz legen. Auch wenn – oder gerade w e i l – so manch psychologisches Phänomen heute anders gesehen wird als zu seiner Zeit, bleibt er nach wie vor ein interessanter, lesenswerter Anreger, der unsere eigenen Gedanken zu befruchten weiß.
Wikipedia schreibt:
José Ortega y Gasset (* 9. Mai1883 in Madrid; † 18. Oktober 1955 ebenda) war ein spanischer Philosoph, Soziologe und Essayist. Er gilt neben Miguel de Unamuno als der bedeutendste spanische Denker des zwanzigsten Jahrhunderts und hat auf eine ganze Generation spanischer Intellektueller – insbesondere auf die sogenannte Escueala de Madrid („Schule von Madrid“) – nachhaltigen Einfluss ausgeübt. Zu seinen wichtigsten Schülern zählen María Zambrano, Xavier Zubiri, Julián Marías Aguilera, José Gaos, und Antonio Rodríguez Huéscar.