Das autoritäre, post-sowjetische Russland Vladimir Putins gibt es nicht mehr. An seine Stelle ist ein restaurierter Totalitarismus getreten, ein System, in dem Putin die Repression wieder auf sowjetisches Niveau gehoben hat. Innerhalb dieser Diktatur hat er seine persönliche Diktatur errichtet, die kaum noch Rücksicht auf klassische politische Faktoren wie Ökonomie oder öffentliche Meinung nimmt. International ist Putins Russland weit isolierter als es die späte Sowjetunion war: die offiziellen Kontakte in den Westen sind weitgehend kollabiert, lediglich mit China und mit Staaten des globalen Südens unterhält der Kreml noch normale Beziehungen. In nur wenigen Monaten haben wir einen Prozess der Radikalisierung des Regimes erlebt, der nur wenige historische Parallelen kennt. Der Angriffskrieg gegen die Ukraine war der Katalysator dieser Entwicklungen.
Seinen symbolischen Beginn hatte diese neue Phase der Herrschaft Putins mit der Sitzung des russischen Sicherheitsrates am 21. Februar 2022 – drei Tage vor Beginn des großen Angriffs auf die Ukraine. An diesem Tag zwang Putin die Mitglieder dieses Gremiums, sich öffentlich hinter seine aggressive Politik zu stellen. Er nahm den Sicherheitsrat kollektiv für den kommenden Krieg in Haftung. Zugleich verdeutlichte Putin, dass es von nun an keine abweichenden Haltungen, keine Nuancen oder Halbheiten in der russischen Politik mehr geben werde. Wie in jeder Diktatur gibt es seitdem nur noch ein binäres Freund-Feind-Denken. Wer nicht mitzieht, wird als Verräter gebrandmarkt. Zugleich wurde der Preis für offene Opposition zu Putins Politik drastisch erhöht: man zahlt nun mit dem Verlust der Freiheit, mit dem Ende der eigenen politischen Existenz.
Der unprovozierte Krieg gegen die Ukraine und die verschärften Repressionen führten zu einer Massenflucht aus Russland, die an die Jahre nach der Oktoberrevolution oder den Zusammenbruch der Sowjetunion erinnert. Hunderttausende haben dem Land den Rücken gekehrt und damit der russischen Opposition eine wichtige Stütze entzogen: die gut ausgebildeten, am Westen orientierten Russinnen und Russen befinden sich nun zu einem großen Teil im Ausland. Zurück bleiben diejenigen, die Putins Regime unterstützen, die sich seit Jahren entpolitisiert haben und die sich Tag ein, Tag aus von der TV-Propaganda in einen chauvinistischen Rausch versetzen lassen. Putins Restauration der Diktatur hat schon jetzt die Sozialstruktur Russlands stark verändert. Russland erlebt eine Entzivilisierung, die das Land auf lange Zeit prägen wird. Ein großer Teil der Russinnen und Russen lebt nun in einer Blase, in der Krieg, Gewalt und Hass die neue Normalität sind. Wie weit diese Radikalisierung dauerhaft die Gesellschaft Russlands prägen wird, ist eine offene Frage. Es gibt wenig Anlass zum Optimismus.
Die Radikalisierung des russischen Regimes beschleunigte sich nochmals mit der Verkündung der Mobilmachung im September 2022. Sie erfolgte als direkte Reaktion auf die militärischen Erfolge der Ukraine im Sommer. Mit dem massenhaften Einzug wehrfähiger Männer änderte sich die Grundlage der Herrschaft Putins. Gewalt und Krieg werden nicht länger nur von den Sicherheitsapparaten, den professionellen Kämpfern oder von mehr oder weniger Freiwilligen geführt. Die gesamte Bevölkerung wird nun für die Aggression gegen die Ukraine in Geiselhaft genommen. Eine weitere Fluchtbewegung war die Folge. Noch sind Russlands Grenzen relativ offen, doch es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis auch diese letzte Freiheit, die Freiheit sich zu entziehen, verschwindet. Es liegt in der Logik der Kontrolle, Mobilisierung und Re-sowjetisierung, dass auch dieses Schlupfloch geschlossen werden wird.
Der Aufstieg der Warlords dürfte zur Destabilisierung führen
Weitere militärische Niederlagen gegen Kyjiw dürften auch in Zukunft weitere Verschärfungen der Diktatur in Russland nach sich ziehen. Putin und seine Verbündeten kennen keine andere Reaktion auf die Herausforderungen, vor denen sie stehen. Die einzig abweichenden Stimmen, die in Russland noch geduldet werden – das national-imperiale Lager, das eine militärische Mobilisierung wie im Weltkrieg fordert – setzen den Kreml noch weiter unter Druck. Es wird auch interessant sein, zu beobachten, wie die Warlords Kadyrow (Tschetschenien), Prigoschin (Wagner) oder Solotow (Nationalgarde/Rosgwardija) sich verhalten werden. Sie stehen pars pro toto für Putins neue Kriegselite. Längst haben solche Figuren die früheren ökonomischen und politischen Schwergewichte verdrängt. Durch ihren direkten Zugriff auf Tausende bewaffneter Männer stellen sie einen wichtigen Machtfaktor dar. Zugleich ist dieser Krieg auch ihr Krieg: wie Putin dürfen sie ihn nicht verlieren und sind mit ihm im Prozess der kontinuierlichen Radikalisierung gefangen. Sie (und auch andere) müssen mit dem Machthaber den Weg zu Ende gehen oder selbst nach der Macht greifen. Dieser Aufstieg bewaffneter Organe jenseits der staatlichen Institutionen dürfte langfristig zur Destabilisierung des russischen Staates beitragen. Unter Putin hat der Kreml sein Gewaltmonopol verloren. Wie sich die verschiedenen Gewaltakteure im kommenden Jahr verhalten werden, ist eine der entscheidenden Fragen, die 2023 prägen werden.
Eine weitere Frage ist, wie lange die ökonomischen Eliten Russlands noch ihrer eigenen Entmachtung und Enteignung zusehen werden. Man kann davon ausgehen, dass viele von ihnen Putins Kriegskurs ablehnen und sich eine Wiederannäherung an den Westen wünschen. Sie haben allerdings gelernt, dass man das öffentlich nicht mehr äußern darf. Letztlich handelt es sich um Opportunisten, die auf Putins Moment der Schwäche warten, um sich dann neu zu positionieren. Noch werden sie durch Angst und Repression auf Linie gehalten. Aber weitere militärische Niederlagen, wirtschaftliches Chaos oder gesundheitliche Probleme des Machthabers könnten sie nutzen, um sich für ein Russland nach Putin in Stellung zu bringen. Der Westen sollte ein Auge auf sie haben.
Putin hat Russlands Geschäftsmodell schwer angeschlagen
Durch die Errichtung einer offenen Diktatur hat Putin zunächst – im Angesicht des militärischen Desasters – seine persönliche Macht konsolidiert und sein politisches Überleben kurzfristig abgesichert. Doch letztlich bestand seine vergangene Stärke darin, dass er über die Ressourcen eines Petro-Staates verfügte, mit denen er sich im In- und Ausland Gefolgschaft kaufen konnte. Diese Ressourcen werden in diesem Jahr noch knapper werden, der Krieg wird sie verschlingen und einen so lukrativen Absatzmarkt für seine Kohlenwasserstoffe wie Europa kann Russland nicht ersetzen. Putin hat nicht nur den Rest an Zivilität in Russland zerstört, er hat auch Russlands Geschäftsmodell schwer angeschlagen und ist in einem Krieg verstrickt, in dem er seine eigenen Ziele nicht mehr erreichen kann.
In einer persönlichen Diktatur sammelt sich der politische Druck stets an der Spitze. Die Herrschaft des Machthabers beruht allein auf Loyalität und Angst – jede vermeintliche Schwäche unterminiert potenziell das gesamte Regime. Wir wissen nicht im Detail, wie Putin auf weitere Rückschläge und Niederlagen reagieren wird. Doch es scheint plausibel, dass er – wie im Februar und im September – weiter versuchen wird, die Flucht nach vorn anzutreten. Die spannende Frage ist, wie lange ihm die russischen Eliten folgen werden, ob ihre Loyalität bröckeln wird und wie stabil die chain of command in Russland noch ist. Durch die militärische Mobilmachung kommt eine lang stillgestellte Gesellschaft in Bewegung und es ist durchaus wahrscheinlich, dass der Machthaber die Dynamik nicht kontrollieren kann, die er mit der Radikalisierung des Regimes selbst ausgelöst hat.